Neun Millionen Teamchefs: Was Fußball und Politik gemeinsam haben
Armin Hübner ist nicht nur Direktor des NEOS Parlamentsklubs, sondern auch Fußballfan. Anlässlich der beginnenden Europameisterschaft präsentiert er die Gemeinsamkeiten zwischen Fußball und Politik.
1. Neun Millionen Teamchefs
In Österreich gibt es neun Millionen Teamchef:innen – und genauso viele Spitzenpolitiker:innen oder Bundeskanzler:innen.
Diese Aussage ist natürlich überzogen, denn nicht alle Österreicher:innen interessieren sich für Fußball oder Politik. Dennoch gibt es in beiden Bereichen eine überraschend große Zahl an Expert:innen, die glauben, es besser zu wissen und zu können. Diese kommentieren und beraten, manche als Hobby, manche bezahlt. Es ist oft schwer zu unterscheiden, ob jemand kritisch und interessiert ist – also ein:e Demokrat:in – oder einfach alles besser weiß und sich dem Volkssport des Politiker-Bashings hingibt. Beim Fußball ist das zwar manchmal leichter zu unterscheiden, denn hier ist die Expertise oft offensichtlicher als in der Politik, dennoch gibt es viele gesellschaftliche Überschneidungen in den Bereichen.
2. Gemeinschaft oder Rivalität?
Fußball und Politik haben vieles gemeinsam: Beide gesellschaftlich relevanten Bereiche haben die Macht, für ein Gefühl der Gemeinschaft oder Rivalität zu sorgen.
In beiden Fällen startet diese Entwicklung schon früh: Die Sozialisation in der Familie und in der Region, in der man aufwächst, sind ausschlaggebende Faktoren für die Liebe zu einem Fußballklub – oder die Nähe zu einer Partei. Viele Menschen wachsen unter Fans eines Vereins auf, treten schon in jungen Jahren Fanklubs bei und nehmen diese Leidenschaft aus der Familie mit. In der Politik ist dieser Einfluss schwächer, aber immer noch vorhanden.
Parlamentsklubs vertreten politische Ideen und Interessen und versuchen, die Bedürfnisse ihrer Wählerschaft zu erfüllen. Der Austausch mit Bürger:innen ist entscheidend, und jede Partei, die eine Community schafft, in der sich Menschen konstruktiv einbringen können, wird mittelfristig erfolgreich sein. Ähnlich ist es auch bei Fußballvereinen: Wer es schafft, Fans auch in Zeiten schlechter Performance zu halten und in Kontakt zu bleiben, wird wohl langfristig besser dastehen.
Einziger Unterschied: Die Identifikation mit einem Fußballklub sowie mit einer Partei sorgt durch das Wir-Gefühl auch automatisch für Rivalität anderen Klubs gegenüber. Die Wahrscheinlichkeit, sich mit anderen Parteien auseinanderzusetzen und seine Meinung zu ändern auf Politik-Ebene jedoch wohl größer ist, als die, jemals die Loyalität zu einem Fußballklub zu ändern. (Zum Glück.)
3. Die Rolle von Persönlichkeiten
Persönlichkeiten dominieren zunehmend die Politik. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi und der französische Präsident Emmanuel Macron haben traditionelle Parteien hinter sich gelassen und genießen großes Vertrauen. In Österreich war die ÖVP stark auf Sebastian Kurz fokussiert.
Diese Tendenz zur personenbezogenen Politik hat verschiedene Gründe: Misstrauen und Gleichgültigkeit gegenüber der Politik sowie die höhere Wertschätzung von Expert:innen gegenüber Parteipolitiker:innen. Viele Entscheidungen werden direkt von Staats- und Regierungschefs getroffen, oft ohne parlamentarische Kontrolle, insbesondere im EU-Rat. Die Parteiloyalität nimmt ab, und Politiker:innen agieren zunehmend individualistisch. Medialisierung ermöglicht es, Wähler:innen direkt anzusprechen, wodurch Parlamente und Parteien an Bedeutung verlieren. Das gefährdet den lebendigen Parlamentarismus und fördert einen Wettbewerb der Persönlichkeiten.
Aber damit verlieren Parteien, die eine wichtige demokratische Aufgabe haben: Parteien haben repräsentative Aufgaben und rekrutieren Führungspersönlichkeiten. Sie sorgen für Checks & Balances, die verhindern, dass die Wählerschaft auf den Goodwill einzelner Führungspersönlichkeiten angewiesen ist. Parlamentsklubs moderieren politische Vertretung und Rechenschaft, bieten Vorhersehbarkeit und Transparenz und erleichtern WählerInnen die Entscheidungsfindung. Personenbezogene Politik ist jedoch nur so stark wie die Person, auf die sie sich stützt, und PolitikerInnen haben oft kurze Halbwertszeiten.
Das ist im Fußball nicht ganz unähnlich. Man ist Messi oder Ronaldo – weitgehend unabhängig vom Verein. Man will Mbappé spielen sehen, egal ob bei PSG oder Real Madrid, oder sogar bei Les Blues, auch wenn man früher immer zu England gehalten hat. Ähnliches könnte man über den britischen Premierminister Winston Churchill sagen: Er wechselte immerhin zweimal die Partei.
4. Der Umgang mit den Medien
„Im Fußball und in der Politik wird doch deshalb nur noch gelogen, weil sich niemand mehr seine Meinung zu sagen traut. Die schlimmsten Interviews geben Sportdirektoren – die müssen bei jeder Frage lügen, damit keine Unruhe entsteht.“
Martin Hinteregger
In diesem Zitat spricht Martin Hinteregger von einer Angst, die er gleichermaßen im Fußball und in der Politik sieht: wie Medien auf ehrliche Aussagen reagieren könnten. Aus seiner Sicht führt das dazu, dass viele Akteure in beiden Bereichen zur Lüge greifen: Sportdirektor:innen und Politiker:innen sehen sich gezwungen, unehrlich zu antworten, um potenzielle Unruhe oder negative Schlagzeilen zu vermeiden, sagt Hinteregger.
So gesehen ist es ganz angenehm, dass niemand Direktor:innen in der Politik interviewt, sondern wir hinter den Kulissen bleiben.
5. Eine Frage des Vertrauens
Die Folgen unehrlicher Aussagen Medien gegenüber gleichen sich in beiden Bereichen. Der Druck der Medien führt zu einem Authentizitätsverlust, sowie zu einem Mangel an Offenheit und Transparenz und beeinträchtigt im Endeffekt das Vertrauen der Öffentlichkeit.
Das Vertrauen in Politiker:innen ist, je nach Umfrage und Studie, schlecht bis sehr schlecht. Das Vertrauen in Journalist:innen ist ebenfalls niedrig und sinkend- diese bleiben in ihrer gemütlichen Rolle als Expert:innen und gehen nicht in die Politik, wissen aber oft alles besser- so verfällt der Journalismus oft in Bashing.
Hier könnte der Fußball als Orientierung dienen. Ein Artikel aus 2012 berichtete über eine Umfrage, in der Politiker:innen und Fußballspieler:innen als die unbeliebtesten Berufsgruppen in Österreich identifiziert wurden. Während sich das Ansehen von Fußballspielern seitdem verbessert hat, bleibt das Vertrauen in Politiker:innen niedrig. Heutzutage geben Fußballspieler professionelle Interviews und genießen weitgehend einen guten Ruf. Ob das nun an den Fußballer:innen, den Journalist:innen oder gar der Öffentlichkeit liegt, sei dahingestellt.
Die Effekte, die als Erklärung dienen könnten
Übrig bleibt die Tatsache, dass der Fußball und die Politik die Menschen bewegen: In vielen Fällen wird man von Kindesbeinen an damit konfrontiert, lernt, sich damit zu identifizieren, hat Emotionen und starke Meinungen. Folgende psychologischen Effekte und Verzerrungen spielen eine wesentliche Rolle dabei, wie gesellschaftliches Verhalten in Bezug auf Fußball und Politik entstehen kann.
1. Die Truthahn-Illusion
Der Trend, dass Expert:innen beliebter sind als Politiker:innen, muss nicht anhalten. Denn das kann durch die Truthahn-Illusion erklärt werden, bei der ein positiver Trend plötzlich und unerwartet enden kann. Denn letztlich lebt der Journalismus davon, dass Politiker:innen als Idioten dargestellt werden, um sich selbst besser zu fühlen. Dahinter steht aber vielleicht sogar, dass einfach zwei viel zu verbandelte Branchen ums Überleben kämpfen.
2. Der Dunning-Kruger-Effekt
Sowohl im Fußball als auch in der Politik spielt der Dunning-Kruger-Effekt eine Rolle. Viele Menschen reden mit, weil sie mit wenig Wissen auf den „Mount Stupidity“ gelangen und denken, dass sie viel Ahnung haben.
3. Self-serving Biases
Ein weiterer Punkt ist der Self-serving Bias, bei dem Menschen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten und Beiträge überzubewerten. Dies führt oft dazu, dass sie sich selbst als die geeignetsten Kandidat:innen sehen. Das gilt sowohl für Politiker:innen und Teamchefs selbst – aber natürlich auch für die, die sich dafür halten.
4. Bias Blind Spot
Schließlich gibt es den Bias Blind Spot, bei dem Menschen glauben, dass sie selbst nicht anfällig für kognitive Verzerrungen sind, obwohl sie es tatsächlich sind.
5. Die emotionale Beweisführung
Die emotionale Beweisführung beschreibt die Neigung, eine empfundene Emotion als Beweis für eine Annahme zu betrachten. Das betrifft sowohl die Nicht-Aufstellung von Spielern, die man mag, als auch politische Entscheidungen, die man einfach als unfair empfindet, egal ob man die Fakten dazu kennt oder nicht.
Diese psychologischen Effekte spielen oft eine wesentliche Rolle dabei, wie sowohl im Fußball als auch in der Politik Meinungen und Entscheidungen getroffen werden. Menschlich und verständlich, aber mein Appell: können wir zumindest ein wenig Spaß in der Politik und bei der Fußball-EM haben?