Ohne Einwanderung geht bald nichts
In Österreich besteht ein eklatanter Arbeitskräftemangel, der sich inzwischen überall abzeichnet, etwa im Bildungsbereich wie auch im Wirtschafts-, Industrie- und Dienstleistungsbereich. Von einem „Pflegenotstand“ ist sogar im Gesundheitsbereich die Rede. Es fehlt also an allen Ecken und Enden an Personal. Und seit Jahren zeigen demografische Entwicklungen, dass Bevölkerungswachstum und Wohlstand in Österreich (wie übrigens auch in anderen europäischen Ländern) auf Einwanderung basieren, nicht auf Geburtenraten.
Diesen Tatsachen zum Trotz halten sich in der öffentlichen Debatte und zum wahlpolitischen Stimmenfang unreflektierte Alltagsrassismen und Xenophobien, wie kürzlich die skandalöse Waldhäusl-Ansage zeigte – übrigens umgehend von der Journalistin Corinna Milborn als „rassistische Realitätsverweigerung“ bezeichnet. Mit seiner Antwort gegenüber der Schulklasse im Zuge der Puls24-Diskussionsrunde war der einstige Niederösterreich-Landesrat und nun Zweite Präsident des Niederösterreichischen Landtags Gottfried Waldhäusl im Endeffekt sehr nahe am politischen Kabarett. Denn mit seiner Aussage „Dann wäre Wien noch Wien“ erinnerte Waldhäusl schlicht an ein Kabarett-Programm von Lukas Resetarits, wo es noch treffend satirisch hieß: „Ausländer raus aus Österreich, Ausländer raus aus dem Ausland!“ Und sämtlicher Realitätsverweigerung zum Trotz braucht Österreich Einwanderung, um zu prosperieren.
Ganz im Gegenteil schadet Fremdenfeindlichkeit sogar dem Wirtschaftsstandort Österreich. Denn entgegen dem hierzulande gerne kolportierten Selbstbild ist Österreich für potenzielle Zuwander:innen und vor allem für Hochqualifizierte gar nicht so attraktiv. Ganz im Gegenteil, wie aktuelle Untersuchungen zeigen, vor allem die aktuelle Attraktivitäts-Studie der OECD. Österreich belegt nämlich gemäß diesem im März 2023 erschienenen OECD-Attraktivitäts-Index bzw. den OECD „Indicators of Talent Attractiveness“ (ITA) nur den 26. von 38 Plätzen. Verglichen dazu liegt Neuseeland an erster, Schweden an zweiter und die Schweiz an dritter Stelle. Auch manche Nachbarländer Österreichs (außer Tschechische Republik, Ungarn und Italien) sind besser gereiht. Willkommen in der Realität.
Im internationalen Wettbewerb
Mittlerweile geht es nicht mehr um das längst veraltete Konzept der „Gastarbeit“, Arbeiten auf Zeit (und schon gar nicht in Rotation), sondern um jahrelang wissenschaftlich analysierte – teils folgenschwere – Aspekte von Migration: Brain Gain vs. Brain Waste oder sogar Brain Drain. Im Idealfall hätten wir Brain Gain, also das Anwerben von Hochqualifizierten, was aufgrund der zahlreichen bürokratischen Hürden äußerst schwierig ist. Dadurch können zugewanderte Menschen oft nicht entsprechend ihrer Qualifikation arbeiten, was somit eine Dequalifizierung (Brain Waste) mit sich bringt. Oder sie finden für ihre in Österreich erworbene Qualifikation hierzulande nicht die entsprechenden Rahmenbedingungen (u.a. arbeitsrechtliche, ökonomische etc.) und wandern im schlimmsten Fall aus (Brain Drain). Öffentlich problematisiert wird Brain Drain vorwiegend im Zusammenhang mit deutschen Medizinstudierenden in Österreich, die nach ihrem Abschluss wieder remigrieren. Dafür werden von der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) gerade Lösungsmöglichkeiten wie eine fünfjährige Berufspflicht unter Erhalt eines Stipendiums erprobt. Weitgehend unbemerkt bleiben im populistischen Diskurs allerdings andere Herkunftsländer, nämlich Drittstaaten.
Verschlafene Tatsachen
Für einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt ist die österreichische oder eine EU-Staatsbürgerschaft erforderlich. Problematisch kann es mit der Drittstaatsangehörigkeit bzw. „falschen“ Staatsbürgerschaft und dem dadurch erforderlichen Aufenthaltstitel in Österreich werden. Wie so mancher individuelle Fall zeigt, kommt es nicht selten vor, dass in Österreich zwar die tertiäre Ausbildung abgeschlossen werden kann und Betriebe für die Aufnahme nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium offenstehen, dass jedoch die Erlangung der Rot-Weiß-Rot-Card unnötig in die Länge gezogen wird, was im Worst Case nicht zu Brain Gain, sondern zu Brain Drain, also der Abwanderung, führen kann – in der öffentlichen Debatte oft unbemerkt.
Diese Tatsache erweist sich als besonders bitter, weil seit den 1980er Jahren namhafte Migrationsexpert:innen wie u.a. Gudrun Biffl, Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Heinz Faßmann und Rainer Münz sowie August Gächter auf die Bedeutung von Zuwanderung und sozialer Mobilität für die Prosperität Österreichs hingewiesen haben. Nach wie vor verrichten Migrant:innen mit gültigem Aufenthaltstitel Tätigkeiten unter ihrer Qualifikation (also Brain Waste). Der wesentliche Grund für diese Dequalifizierung ist formal gesehen der äußerst schwierige bzw. unmöglich gemachte Nostrifizierungsprozess, wodurch in anderen Ländern, vorwiegend Drittstaaten, erlangte Bildungsabschlüsse nur zögerlich (unter Voraussetzung von Zusatzprüfungen) oder kaum anerkannt werden. Was innerhalb des Europäischen Hochschulraums mithilfe des Bologna-Prozesses erreicht werden soll, nämlich Bildungsabschlüsse und universitäre Laufbahnen so weit zu vereinheitlichen, dass Mobilität am europäischen Arbeitsmarkt bzw. „Brain Circulation“ im Innovationsbereich ermöglicht wird, erweist sich für Drittstaatsangehörige in Österreich nach wie vor als schwierig; obwohl diese den größten Migrant:innenanteil ausmachen – scheinbar auch nicht nennenswert.
Wo Not (nicht) erfinderisch macht
Der Arbeitskräftemangel lässt inzwischen viele Stakeholder (Stichwort: Bring your friend im Wiener Gesundheitsbereich) und Staaten erfinderisch werden. So wurde Ende März – nach vorangegangenen Protesten der CSU/CDU – unter der Ampelkoalition in Deutschland ein neues Kräfteeinwanderungsgesetz (sic!) beschlossen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) betonte bei der anschließenden Pressekonferenz ohne Umschweife:
„Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland. Wir nutzen jetzt – endlich! – die Chance, ein modernes Einwanderungsrecht zu schaffen.“ Und: „Wir werden dafür sorgen, dass wir die Fachkräfte ins Land holen, die unsere Wirtschaft seit Jahren dringend braucht. Wer mit dem Mittelstand und dem Handwerk spricht, der weiß, dass wir nur so den Wohlstand unseres Landes sichern können. Wir wollen, dass Fachkräfte schnell nach Deutschland kommen und durchstarten können. Bürokratische Hürden wollen wir aus dem Weg räumen.“
Bezogen auf Österreich und insbesondere vor dem Hintergrund der Bundeskanzler-Rede zur Zukunft Österreichs oder blauer Hetze wie „Dann wäre Wien noch Wien“ klingt das wie reine Utopie. Denn unter Heranziehung des besagten OECD-Index tun sich hierzulande einige Baustellen gleichzeitig auf, beginnend beim Aufenthaltstitel oder konkret bei der Rot-Weiß-Rot-Card für Fachkräfte und Hochqualifizierte über die Nostrifizierung und Aufstiegsmöglichkeit, bis zur Leistbarkeit von Wohnen und verfügbaren Kinderbetreuung in Österreich, ganz zu schweigen vom österreichischen Steuersystem.
Reformen sind höchst an der Zeit
Neben Reformen im österreichischen Bildungssystem sind umfassende Reformen in den politischen Bereichen Einwanderung, Arbeitsmarkt, Gesellschaft, Wohnen und Einwanderungskultur dringend notwendig. Skandalöse Abschiebepraktiken, nicht nur bezogen auf missachtete Kinderrechte und das Kindeswohl, sondern auch aktuell bezogen auf eine indische Familie, machen eines klar: Der Bereich Migration, und auch der davon strikt getrennte Bereich Asyl, soll (wieder) zu den Agenden des Sozialministeriums gehören. Bis 1991 war das auch der Fall, bevor – nicht zuletzt im Zuge der Flucht vieler Menschen vor den Jugoslawien-Kriegen der 1990er Jahre – das Innenministerium dafür die Zuständigkeit erhielt. Es ist höchst an der Zeit, irreguläre Migration durch regulierte Migration und visionäre Migrationspolitik zu ersetzen.
SILVIA NADJIVAN ist Senior Researcherin im NEOS Lab. Die promovierte Politologin arbeitet zu den Bereichen Demokratie, Europa, Sicherheit und modernes Österreich. Zuvor forschte, publizierte und lehrte sie u.a. zu Kriegen und Transformationsprozessen in Südosteuropa sowie Migration und Intersektionalität in Europa u.a. an der Universität Wien und am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).