Pfeile im Köcher beenden keinen Krieg
Luftabwehr, Raketen, Panzer und Sanktionen dienen dazu, den Kriegsverlauf zugunsten der Ukraine zu drehen und Russland schnell zu einem Einlenken zu bewegen. Verzögerungen verlängern nur den Krieg.
Am 16. Dezember 2022, zehn Monate nach dem massiven militärischen Überfall Russlands auf die Ukraine, verabschiedete die Europäische Union ihr neuntes Sanktionspaket. Darin unter anderem zu finden: Exportverbote von Drohnenmotoren und Dual-Use-Produkten, also Technologien, die sowohl in zivilen als auch in militärischen Gütern Anwendung finden. Im achten Paket, beschlossen am 6. Oktober 2022, wurde der Export von Gütern nach Russland verboten, die zur Verbesserung russischer Waffen dienen können.
Als die Vereinigten Staaten Anfang Juli letzten Jahres ein weiter reichendes Raketensystem an die Ukraine lieferten, änderte sich die Situation am Schlachtfeld fast augenblicklich. Das HIMARS (High Mobility Artillery Rocket System) zwang die russische Armee, ihre Munitionsdepots weiter hinter der Front anzulegen, verzögerte damit ihren Nachschub und exponierte ihn gegen ukrainische Angriffe. Aus einem russischen Vormarsch wurde ein Stellungskrieg, gefolgt von erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffen und Gebietsgewinnen.
Obwohl die westlichen Partner der Ukraine klar und deutlich sehen, dass Sanktionen die russische Kriegswirtschaft beeinträchtigen und die Ukraine mit den geeigneten Waffen durchaus in der Lage ist, auch am Schachtfeld zu bestehen, ist jede Sanktion ein Geduldsspiel, jede Waffenlieferung ein Drama nach klar vorgegebenen Abläufen: ein klares Nein, gefolgt von einem Vielleicht aus diesem oder jenem Staat, gefolgt von einem Veto eines anderen – Deutschland –, dann Debatten und Verzögerungen und letztendlich einem Ja.
Warum eigentlich? Deutschland liefert der Ukraine schon lange Schützenpanzer und Flugabwehrpanzer. Was war der entscheidende Unterschied zum Kampfpanzer Leopard? Der kommt letztendlich auch, genau wie andere Kampfpanzer. Aber jetzt sagt Deutschlands Kanzler Olaf Scholz Nein zu Kampfflugzeugen. Wenn man aus den vergangenen zehn Monaten etwas gelernt hat, muss man davon ausgehen, dass wohl dennoch bald Kampfflugzeuge geliefert werden. Warum dann das große Zaudern, die ewigen Debatten, die nur Russlands Diktator Wladimir Putin wertvolle taktische Zeit geben?
Die Verzögerungen helfen Putin
Wenn man europäischen Entscheidungsträger:innen quer durch die Union zuhört, würde man glauben, die Ukraine kämpfe für Europas Verteidigung, für den Erhalt liberaler, demokratischer Werte auf dem ganzen Kontinent. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat genau das bei seinem Brüssel-Besuch im Februar auch gesagt – und donnernden Applaus dafür geerntet.
Man würde auch meinen, das Ziel der Sanktionen sei, Russlands Kriegsmaschinerie so schnell wie möglich derart zu treffen, dass die russische Armee am Schlachtfeld ins Hintertreffen gerät und der Krieg so schnell wie möglich beendet wird – entweder durch eine russische Niederlage oder eine ausverhandelte Wiederherstellung der Souveränität der Ukraine. Man würde meinen, dass Waffenlieferungen der Ukraine helfen sollen, eine Situation der Stärke zu erkämpfen, aus der heraus man vielleicht verhandeln kann. Oder gar, den Aggressor vollständig in seine Schranken zu weisen und das Schreckgespenst Putin, der Frieden und Wohlstand in Europa wie niemand sonst gefährdet, ein für alle Mal zu bannen.
Wie aber passt es zu dieser Strategie, offensichtlich zehn Monate lang Technologien, die in der russischen Rüstungsindustrie verwendet werden können, weiterhin nach Russland exportieren zu lassen? Wieso werden Waffen, die die Ukraine zu ihrer Verteidigung dringend braucht, monatelang zurückgehalten, nur um dann, wenn die Situation sich bereits verschlechtert hat, doch noch geliefert zu werden? Wie oft kann man den gleichen Fehler machen?
Russland versteht Europas Zaudern und nutzt es aus. Bis vor kurzem nahmen Militärexpert:innen an, Putin würde mit seinem nächsten Großangriff auf den Donbas bis zum Frühjahr warten, bis die in der Teilmobilmachung einberufenen Rekruten ausreichend ausgebildet und ausgerüstet sind. Nun aber beginnt der Angriff verfrüht – wohl auch, weil Putin nicht warten will, bis ukrainische Soldat:innen auf dem neuen westlichen Gerät ausgebildet sind. Schlecht ausgebildete, kampfunerprobte junge Russen werden als Kanonenfutter in die Schlacht geschickt, fügen aber dank ihrer großen Zahl den Verteidigern dennoch hohe Verluste zu.
All das wäre zu verhindern gewesen, hätte Europa seinen Worten sofort Taten folgen lassen und die Ukraine, der man ja seit dem ersten Kriegstag volle Unterstützung schwört, mit allem Notwendigen ausgerüstet. Die Kampfpanzer, die heute geliefert werden, werden nächsten Frühsommer einen Unterschied machen – sie könnten aber schon im Einsatz sein. Die Kampfjets, um die jetzt gerungen wird – und die nach bekanntem Muster irgendwann doch in die Ukraine fliegen werden –, werden ihren Beitrag noch später leisten. In der Zwischenzeit werden Menschen sterben, und der Krieg wird länger dauern als nötig. Im schlimmsten Fall wird Russland manche seiner Kriegsziele erreichen, weil die Ukraine nicht ausreichend ausgerüstet war, die Angriffe abzuwehren.
Diese Niederlage wird dann eine Europas, das dem Kriegstreiber Putin wieder einmal bestätigt hat, dass es nicht in der Lage ist, schnell und entschieden auf eine Krise zu reagieren. Das ist die Lehre aus den mauen Sanktionen nach der Annexion der Krim. Und genau diese Lehre hat Putin neue Anreize gegeben, mit seiner Aggressionspolitik weiterzumachen.
Easy does it?
Letzten April meinte Außenminister Alexander Schallenberg zum Thema Sanktionen, Europa hätte „noch viele Pfeile im Köcher“. Welchen Sinn hat diese Strategie?
Die Idee, nicht alle Sanktionen sofort anzuwenden, basiert auf dem Gedanken, dass Putin sich darüber Sorgen machen sollte, was ihm nach einer weiteren Eskalation noch alles geschehen könne. Der Plan war: Zuerst zeigen wir ihm, dass wir es ernst meinen, behalten uns aber ausreichend „Pfeile im Köcher“, um sein Kalkül für die Zukunft zu beeinflussen.
Ob dieser Plan jemals eine Aussicht auf Erfolg hatte, ist zu bezweifeln. Immerhin ist der 24. Februar ja nicht der tatsächliche Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine. Der russische Angriff begann genau acht Jahre davor, als 2014 russische Soldaten – zuerst ohne Erkennungsabzeichen – auf der Krim einmarschierten und diese „heim ins Reich“ holten. Sanktionspakete wurden geschnürt, Putin eskalierte im Donbas. Weiteren Sanktionen zum Trotz überfiel er die bis dahin noch unbesetzte Ukraine am 24. Februar 2022. Und nach jedem Sanktionspaket eskaliert Putin weiter: Kriegsverbrechen in Butscha und Irpin, Entführungen ukrainischer Kinder nach Russland, Bombardierung von Spitälern und Wohnhäusern, und letztendlich Angriffe auf den zivilen Energiesektor, um Zivilist:innen im Winter durch Kälte zu ermorden.
Es ist Krieg – und Europa behält sich Pfeile im Köcher
Kein Krieg endet durch Pfeile, die man noch im Köcher hat. Sondern durch diejenigen, die ihr Ziel so früh wie möglich treffen.
Wir wissen, dass die Sanktionen wirken. Russland mag zwar weiter viel Geld an Öl und Gas verdienen, aber die Autoindustrie steht still, Flugzeuge bleiben am Boden, zu Weihnachten waren die Geschäfte leer, die Inflation steht bei über 15 Prozent. Noch wichtiger: Die Waffenproduktion stockt. Das stolze Russland muss in Nordkorea und im Iran Nachschub besorgen. Und das Versprechen, nur Berufssoldaten in dieser kleinen Spezialoperation einzusetzen, musste Putin bereits einmal brechen, ein zweites Mal steht bevor. Worauf also warten wir?
Wenn Russlands Mittelschicht nicht mehr nach Kitzbühel zum Skiurlaub oder zur Yacht an der Côte d’Azur fahren kann, wenn russische Athlet:innen oder Künstler:innen nicht mehr international an- und auftreten dürfen, wenn die Elite ihr Geld nicht mehr in Penthäusern in London investieren kann und ihre Kinder nicht mehr nach Oxford oder Harvard studieren gehen, wenn Russinnen und Russen quer durchs Land sehen, dass sie nicht mehr als Teil der zivilisierten Welt angesehen werden: Erst dann wird dieser Krieg enden. Vielleicht nicht zu unserer vollständigen Zufriedenheit – aber auf eine Weise, mit der alle Seiten leben können und die mittelfristig den Frieden in Europa erhält.
Jeder Pfeil, der im Köcher bleibt, jede nicht sofort geleistete Waffenhilfe verzögert den Moment, in dem Russland merkt, dass es nicht gewinnen kann. Der Tag, an dem Putin verliert, ist jener, an dem ausreichend viele Menschen in Russland merken, dass sie mit dieser Führung nie wieder ein normales Leben in der westlichen Welt, zu der sie sich offensichtlich hingezogen fühlen, leben können.
Präsident Selenskyj sagte es bei seinem Treffen mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem deutschen Regierungschef Olaf Scholz im Élysée-Palast Anfang Februar deutlich: „Frankreich und Deutschland können das Blatt wenden. Je eher wir Langstreckenwaffen und moderne Flugzeuge haben, desto schneller wird Russlands Aggression zu Ende sein.“
Russlands Krieg in der Ukraine wird wohl nicht durch die bedingungslose Kapitulation Moskaus beendet werden. Wenn die freie Welt ihn gewinnen will, muss sie dafür sorgen, dass genügend Menschen in Russland, aus allen sozialen Schichten, sich gegen den Wahnsinn auflehnen. Dafür braucht es umfassende Sanktionen, und zwar jetzt. Es ist Krieg. Die Pfeile müssen aus dem Köcher.