Sanktionen gegen Russland: Auch öffentliche Meinung ist ein Ziel
Die Sanktionen gegen Russland wirken, daran kann mittlerweile kein Zweifel mehr bestehen. Warum würden Putin und seine europäischen Freunde im rechten und linken Eck sie sonst so massiv bekämpfen? Kritik kommt – neben den Putin-Versteher:innen und Entschuldiger:innen – hauptsächlich von denen, deren Erwartungshaltung unklar oder unrealistisch ist.
Zur Wirkung von Sanktionen gibt es eine lange akademische Literaturliste. Sanktionen können Verhalten ändern oder abschrecken; für Regimewechsel sind sie meist weniger effektiv – man schaue nach Kuba, Venezuela, Myanmar oder in den Iran.
Das Problem liegt darin, dass die meisten Sanktionen Staaten treffen, in denen eine sehr kleine Elite Macht über die große Mehrheit der Menschen ausübt. Und zwar zumeist nicht durch Konsens, sondern durch Gewalt. Für eine kleine Clique an der Spitze bleibt immer genug übrig, um sich zu bereichern. Der Rest des Landes leidet unter der Kleptokratie der Eliten, Sanktionen machen für die meisten „normalen“ Menschen wenig Unterschied. Das Militär in Myanmar oder die Religionspolizei im Iran sowie der Machtapparat in Kuba oder Venezuela raffen genug Ressourcen zusammen, um auch in einem verarmten Land gut zu leben. Die öffentliche Meinung spielt kaum eine Rolle und wird im Notfall brutal unterdrückt.
Sanktionen wirken – wegen des Unmuts der Bürger:innen
In Staaten, in denen die Machthaber tatsächlich die breite Zustimmung der Bürger:innen benötigen, sind Sanktionen ungleich wirksamer: Zu viele Weiße in Südafrika, obgleich Nutznießer:innen des Apartheidregimes, wollten nicht länger ausgegrenzt bleiben, sondern ihren Wohlstand weltweit genießen können. Sie bevorzugten ein Ende ihrer sozialen Besserstellung zu Hause im Gegenzug für internationale Anerkennung und Zugang zum globalen Markt. Auch die internationale Marginalisierung des geliebten Rugby-Teams beeinflusste das Verhalten der weißen Elite stark.
Die internationalen Sanktionen gegen Russland nach dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine haben also drei Ziele:
- Ausfuhrverbote für Hochtechnologien sollen es Russland erschweren, seine Kriegsindustrie aufrechtzuerhalten. Ohne Mikrochips und Elektronikteile keine Präzisionswaffen. Die Effekte sind bereits deutlich sichtbar.
- Die russische Wirtschaft soll geschwächt werden, um die Finanzierung des Krieges zu erschweren, aber auch, um die Zustimmung der Bevölkerung zu Putins Krieg auszuhöhlen. Die Oligarchie hat dann kein Interesse mehr an der Stützung des Regimes.
- Sanktionen gegen russische Sportteams, Kulturinstitute und andere, nicht mit dem Krieg verwobene Organisationen sollen den Menschen in Russland zeigen, dass die freie Welt geschlossen und entschlossen gegen Russlands Krieg steht. Das ist besonders wichtig, weil Putin zwar die Medien im Land kontrolliert, aber die Abwesenheit russischer Sportler:innen und Teams im internationalen Sport dennoch deutlich sichtbar bleibt.
Die Sanktionen zielen also auf eine Spaltung des Regimes ab. Auch im Machtapparat wollen viele nicht in einem Pariastaat leben, und patriotische Offizier:innen sind über die Schwächung der Armee durch fehlende Technologien verärgert. Derartige Spaltungen führen dann zu Regimewechseln, auch wenn Sanktionen nicht immer als Auslöser klar ersichtlich sind. Aber eines ist klar: Wenn die Sanktionen die Macht Wladimir Putins untergraben sollen, muss sich die öffentliche Meinung gegen ihn wenden. Dafür sind Sanktionen gegen russische Sportler:innen, Wirtschaftstreibende, Künstler:innen und auch Tourist:innen unabdingbar. Völlig kontraproduktiv ist daher der aufkeimende Versuch des Internationalen Olympischen Komitees, russische Athlet:innen wieder zuzulassen.
Putin führt Kriege um die öffentliche Meinung
Putin ist kein Demokrat. Er ist aber auch kein lupenreiner Diktator. Öffentliche Meinung ist und bleibt ihm wichtig. Der Angriff auf die Ukraine war keine Antwort auf eine Bedrohung der NATO. Seine eigene Regierung hat bereits 2010 klargestellt, dass mit der NATO ein modus vivendi gefunden wurde.
Putin startet internationale Konflikte, wenn er sich innenpolitisch schwach fühlt. Er zementierte seinen Machtanspruch mit einem brutalen Zerstörungsfeldzug gegen Tschetschenien, marschierte in Georgien ein, nahm sich die Krim, zündelte im Donbass, mischte den Syrienkonflikt auf, entsandte Söldner nach Libyen und in den Sahel, intervenierte in Armenien und Kasachstan. In welchem dieser Kriege hatte Russland einen realistischen Grund, sich von diesen Nachbarn oder Nicht-Nachbarn gefährdet zu fühlen? Für Putin ist internationaler Konflikt Ablenkung von Problemen an der Heimatfront – vor allem von seinem Versagen, in 22 Jahren an der Macht eine moderne Wirtschaft neben des von Oligarchen kontrollierten Rohstoffabbaus zu schaffen.
Nicht von ungefähr machte Russland trotz der massiven Verluste und des schleppenden Fortschritts in der Ukraine so lange nicht mobil. Putin wollte nicht eingestehen, dass der Krieg, den man in Russland nur unter Androhung einer 15-jährigen Haftstrafe als solchen bezeichnen darf, nicht nach Plan läuft. Bei all seiner Macht hat Putin immer noch Angst vor der öffentlichen Meinung.
Erst als der Druck seiner nationalistischen Unterstützer:innen nach Verlusten an der Front groß genug wurde, machte er teilmobil. Und erklärte sich auch gleich in einer Ansprache. Die Angst vor der öffentlichen Meinung bleibt.
Der Exodus von abertausenden jungen Menschen aus Angst vor der Einberufung und aus Ablehnung des Krieges macht Putin nun weiter zu schaffen. Gerade jetzt ist nicht der Zeitpunkt, die Sanktionen aufzuweichen.
Die Sanktionen funktionieren
Die russische Kriegswirtschaft stottert, auch weil China aus Angst vor Sekundärsanktionen bei Hightech-Teilen nicht für den Westen in die Bresche springt. Das ist wohl der Angst vor einem langdauernden Krieg, der Chinas Wirtschaft schwächt, geschuldet. Jetzt wird in China, wie auch in Indien und in zentralasiatischen Nachbarstaaten, die Kritik am Krieg lauter. Das immer treue Serbien verwehrt die Zustimmung zu den Scheinreferenden über die Rückkehr des Donbass heim ins russische Reich. Selbst internationale Auftritte kann Putin nicht mehr als Zeichen der Stärke medial vermarkten.
Auch die Wirtschaftssanktionen haben Auswirkungen. Manche Industriezweige stehen still, die Arbeitslosigkeit steigt. Aufgrund der hohen Einnahmen durch den Export von Rohstoffen ist es aber nur schwer – und sicher nicht rasch – möglich, die russische Wirtschaft vollends in die Knie zu zwingen.
An der Front der öffentlichen Meinung schlägt Putin die Schlacht bislang fast alleine. Er nutzt alle Register, um die Sympathien auf seiner Seite zu halten und seinen Krieg populär erscheinen zu lassen. Die freie Welt hingegen reagiert verhalten. Der Ausschluss Russlands von Sportveranstaltungen war wichtig. Selbst mit seiner totalen Kontrolle über die Medien kann Putin nicht verheimlichen, dass keine russischen Fußballvereine in den europäischen Bewerben mitspielen, die russische Fußballnationalmannschaft von der WM-Qualifikation ausgeschlossen wurde und sogar in traditionell „russischen“ Sportarten wie Eishockey-Weltmeisterschaften ohne russische Beteiligung ausgetragen werden. In einem Land, das seit Sowjetzeiten sportlichen Erfolg mit nationalem Prestige gleichsetzt, ist das ein Schlag ins Gesicht.
Der nächste Schritt
Im Kampf um die öffentliche Meinung spielen wir immer noch Putin in die Hände, indem wir naiv versuchen, Schuldige und Unschuldige voneinander zu trennen. Es ist Krieg. Das primäre Ziel muss sein, diesen so schnell wie möglich zu beenden. Zu diesem Zweck manipuliert Putin die öffentliche Meinung, so gut er nur kann. Die freie Welt muss dagegenhalten.
Das bedeutet, sich klar gegen Russland als kriegsführenden Staat abzugrenzen – vor allem dort, wo es keinem Russen und keiner Russin entgehen kann. Der Ausschluss von Sportevents ist nicht nur extrem effektiv, sondern auch kostengünstig. Im Unterschied zu anderen Sanktionen treffen diese Sanktionen wirklich nur Russland.
Auch die Aussetzung von Visaerleichterungen ist ein richtiger Schritt. Wie man gerade sieht, hält diese Maßnahme niemanden ab, vor Putins Krieg zu flüchten. Sie zeigt aber der Mittelschicht, von der viele noch regimetreu oder neutral sind, dass sie unter Putin international ausgegrenzt bleiben werden und ihr angenehmes Leben nur mehr in Russland – oder im Urlaub in Nordkorea – genießen werden können. Die Côte d’Azur bleibt ihnen verwehrt.
Im Kampf um die Deutungshoheit, ob dieses Regime zum Wohle Russlands regiert, sind derartige Maßnahmen essenziell. Sie müssen bleiben.