Überregulierung? Think AI, not Gurkenkrümmung
„(Über-)Regulierung in der EU: Fluch oder Segen?“ – Eine ideale Hausaufgabe für jeden Debattierclub. Schwarz oder weiß, bitte polarisieren Sie!
So in etwa hält es auch die (politische) Gesellschaft mit der Frage nach (zu viel) Regulierung. Die einen solidarisieren sich radikal mit krummen Gurken, unfreien Glühbirnen und Daten-Insensitiven. Die anderen darben verzweifelt nach Harmonisierung, klaren Wertesystemen und damit freilich auch nach Ge- und Verboten.
Die Wahrheit liegt aber irgendwo dazwischen. Um sich ihr anzunähern, beginnen wir mit den Grundlagen: Was will Regulierung eigentlich? ChatGPT definiert für uns: „Regulierung bezieht sich im Allgemeinen auf die Festlegung von Regeln, Vorschriften und Maßnahmen, die dazu dienen, das Verhalten, die Aktivitäten oder den Zustand einer bestimmten Sache oder eines Systems zu steuern, zu kontrollieren oder zu lenken.“
Warum eigentlich Regeln?
Klingt ganz banal nach unserer Idee von (Rechts-)Staatlichkeit. Und im Übrigen auch der Idee des Ordoliberalismus. (Neue) Regeln bilden (neue) Wirklichkeit ab und vice versa. Soziale Systeme bedingen Normen, und diese verfestigen sich zu Gesetzen. Gesetze schaffen Ordnung: Niemand mag Ordnung machen, aber alle haben’s gern ordentlich. Und damit eben auch Wirtschaftsordnung. Soziale Marktwirtschaft. Ein gemeinsamer Markt.
Auf dieses Experiment Gemeinsamer Markt – und nebenbei das größte demokratisch-zivilisatorische Kunstwerk Europäische Union – können wir uns alle verständigen: Staat und Wirtschaft als Entitäten, die sich gegenseitig bedingen. Der Staat schafft die auf Werten basierende erwünschte Form und spannt einen Rahmen, innerhalb derer sich Marktmechanismen frei entfalten können. Der Zweck ist immer die geistige und materielle Wohlstandsoptimierung.
Im europäischen Fall löst zu diesem Behülfe die Union eben nationalstaatliche Regulierung zu Teilen ab. Im Idealfall. Hierfür soll das Subsidiaritätsprinzip als Katalysator dienen: Da, wo es sinnvoller ist, supranational zu agieren, tritt europaweite Regulierung an die Stelle von heterogenen einzelstaatlichen Lösungen. So viel europäisch regeln wie nötig, so viel individuell lösen wie möglich.
Regulierung: Schlecht oder schlecht gemacht?
So weit, so gut. Aber wer bewertet eigentlich die Qualität von Regulierung?
Schnell sind wir dabei, „Überregulierung!“ zu schreien. Aber was die Alternative ist, fragen wir uns nur selten. Ist es am Ende nicht irgendwie subjektiv, weil so vielseitig? Ist nur wirtschaftliche Besserstellung ein Erfolg? Oder Wohlbefinden? Bildungsniveau?
Es ist die gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn wir uns also darauf geeinigt haben, dass nachhaltigere Evolution stattfindet, wenn wir uns Regeln geben, dann können wir uns damit beschäftigen, wie Regulierung nachvollziehbar wird.
Die Frage lautet also nicht, ob Regulierung „gut oder böse“ ist – sondern ob sie gut oder schlecht gemacht ist. Und wie gut ein Gesetz gemacht ist, das entscheidet sich in zwei Dimensionen.
Wie gute Legistik funktioniert
Erfolgsfaktor 1: Die Legistik will bedacht angegangen werden. Ein Gesetz kann gut oder schlecht geschrieben sein. Springender Punkt ist in erster Linie die gründliche Abschätzung der Folgen, um möglichst präzise und zweckgerichtet regeln zu können. Die EU hat sich selbst sogenannten Better Regulation Guidelines verschrieben, also Standards, die bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden sollen. Dazu gehören Verhältnismäßigkeit, Nachhaltigkeit, Transparenz, Treffsicherheit, aber auch die Vermeidung von „Mehrgleisigkeiten“ mit nationalen Gesetzen.
Dazu kommen Prinzipien wie One In, One Out dafür, dass es nicht immer ein Mehr an Regulierung gibt, sondern auch in regelmäßigen Abständen ausgemistet wird. Und sogenannte Sunset Clauses enden automatisch, wenn ihr Zweck erfüllt ist.
Ein „schlaues“ Gesetz hört also nicht bei dessen Beschluss auf zu atmen – es lebt wie ein Organismus und passt sich seinen Umweltbedingungen gegebenenfalls in zukünftigen Novellierungen an.
Das richtige Gesetz zur richtigen Zeit
Erfolgsfaktor 2: Ein Gesetz will gut übersetzt sein. Wichtig ist, dass die Regel niemals zum Selbstzweck verkommt, denn dann wird sie auf Ablehnung stoßen: Das Leben regeln statt Regeln leben.
Der Reason Why, der Grund für das Gesetz, muss klar sein und ein Bedürfnis in der Bevölkerung ansprechen. Je eher Beteiligte nachvollziehen können, was eine Regulierung bezwecken und welchen Nutzen sie bringen soll, desto höher wird deren Akzeptanz ausfallen. Politikerinnen nennen das „die Menschen mitnehmen“ oder „sie dort abholen, wo sie sind“. Es ist aber am Ende nichts anderes als Change Management 101.
In der Praxis hat das auch viel mit Timing zu tun: Eine glückliche Fügung konnten wir beim jüngst beschlossenen AI Act bezeugen. Dieser ist die internationale Blaupause, um künstliche Intelligenz in geordnete Bahnen zu lenken. Mit ihm werden die Chancen, die durch KI auf uns zukommen – (Krebs-)Diagnostik, Kreativität, Erleichterungen im Alltag – regulatorisch gefördert, aber die absehbaren Gefahren wie „Social Scoring“ oder Wahlmanipulationen eingedämmt.
Positivbeispiel AI Act
Der Schlüsselmoment ist immer das Erkennen des Regulierungsbedarfs seitens der Regulierten. Nicht nur die Tech-Konzerne betteln öffentlich um Regulierung: Spätestens seit ChatGPT in aller Munde ist, hat jede schon mal von KI gehört, und ziemlich sicher auch die damit verbundenen Angst-Szenarien mitbekommen. Und just in diesem Moment(um) zaubert, vermeintlich anlassbezogen, die EU das erste KI-Gesetz der Welt aus dem Hut. Gute Regulierung schafft Vertrauen – dass der erste Kommissionsvorschlag aus dem Jahr 2019 stammt, lassen wir jetzt mal beiseite. Hätten wir ihn nicht gerade verabschiedet, würden alle nach schleunigster AI-Regulierung rufen.
Im besten Falle finden wir damit auch internationale Nachahmerinnen, können als Avantgarde mit gutem Beispiel vorangehen und internationale Standards setzen, die „europäischen Werten“ folgen und damit die Welt positiv prägen.
Fazit
Das Hinhauen auf Regulierung ist also viel eher populistischer Reflex (= einfache Antwort) als fundierte Prozesskritik. Denn in einem(-r) Rechtsstaat(enunion) ist Regulierung alternativlos. Dass sie per se nicht der Weisheit letzter Schluss ist und im Zweifel – so wie alles im Leben – gut gemeint, aber schlecht gemacht sein kann, ist auch klar. Es ist aber vielmehr deren Umsetzung im konkreten Fall abzulehnen, als pauschal nach Abschaffung zu rufen. Regulierung ist ein notwendiges Übel. Und wenn gut gemacht, ist sie mehr notwendig als übel.
FANNI GAISMAYER ist Büroleiterin der NEOS-Vertreterin im Europaparlament, Claudia Gamon. Sie studierte Betriebswirtschaft an der WU Wien und Human Decision Science an der Maastricht School of Business & Economics.