Vertrauen verloren, Reformmut gewonnen?
„Die Regierung bräuchte überhaupt keine Angst haben, dass sie sich durch Reformeifer unpopulär macht – denn unpopulär ist sie schon jetzt.“ Was profil-Innenpolitik-Chefin Eva Linsinger jüngst über den Zustand der Bundesregierung schrieb, hört man dieser Tage häufiger. Dabei hat die Öffentlichkeit bis jetzt nur eine Seite der Medaille sehen können. Denn unpopulär ist die Bundesregierung tatsächlich. In den Umfragen hatten die Koalitionsparteien ÖVP und Grüne zwischenzeitlich immerhin mehr als 60 Prozent auf sich vereinen können, mittlerweile sind es rund 31 Prozent.
Wer die Hälfte seiner Wähler verliert, hat ein oder gleich mehrere Probleme. Und die Bundesregierung hat bis jetzt nicht gezeigt, dass sie diesen Wählerschwund mit Reformen begegnen möchte. Diese Seite von Linsingers These hat sich bis zuletzt nicht bewahrheitet.
Stattdessen versuchen es die Regierungsparteien mit einer anderen Taktik: Sie einigen sich vor allem auf teure Hilfen und Subventionen. So gibt es etwa vor Weihnachten eine massive Aufstockung für Energiesubventionen. Wie wenig treffsicher diese konzipiert ist, zeigt alleine schon die Tatsache, dass die Kosten für die Maßnahme mit fünf bis zehn Milliarden Euro. Die Differenz ist immerhin ein Prozent des BIP und mehr Geld, als der Bund 2023 für die Ressorts Inneres und das Fremdenwesen vorgesehen hat.
Dass schon in der Pandemie auf das Geld der Steuerzahler keine Rücksicht genommen wurde, setzt sich nun fort. Dafür gibt es bei einigen Reformthemen, die sich nicht einfach mit mehr Geld lösen lassen, bis jetzt keinen weißen Rauch: die Reform des Arbeitslosengeldes ist gescheitert, ein Klimaschutzgesetz wird blockiert, schnellere Verfahren für den Ausbau erneuerbarer Energien sind vom Tisch. Die Liste könnte noch länger ergänzt werden. So ist es kein Wunder, wenn auch Journalisten von Qualitätsmedien, die aus langer Übung durchaus viel Geduld für Reformstau im Land aufbringen, diese so langsam verlieren. Andreas Koller titelte einen Leitartikel etwa jüngst: „So hat die Regierung keinen Sinn mehr“.
2023 könnte daher durchaus eines dieser berühmten „Windows of opportunity“ sein. Ein Fenster tut sich deswegen auf, weil nach den Wahlen in Niederösterreich, Salzburg und Kärnten planmäßig erst 2024 gewählt wird, und das auch noch auf europäischer Ebene – was in den Parteizentralen der Groß- und Altparteien eine deutlich kleinere Rolle spielt als Landtagswahlkämpfe. Solange dieses Fenster nicht mit Neuwahlen auf Bundesebene zugeschleudert wird, ließe sich hier natürlich ein Reformprogramm durchsetzen.
Und damit kommen wir zu den „opportunities“, den Möglichkeiten. Es gibt großen Reformbedarf, Einigungen lassen sich wohl nur in einigen Bereichen realistischerweise erzielen. Eine große Föderalismusreform ist etwa sehr unrealistisch, ÖVP und Grüne könnten sich allerdings beim Thema Pensionen auf grundlegendere Maßnahmen verständigen.
Dafür ist die Zeit aus mehreren Gründen reif: Erstens zeigt der enorme Arbeitskräftemangel, dass ein späterer (Früh-)Pensionsantritt eine massive Entlastung für die Gesellschaft wäre, nicht nur aus finanziellen Gründen. Zweitens zeigen die jüngsten Prognosen der Alterssicherungskommission, dass die Kosten für die Bezuschussung der Pensionslücke das Bundesbudget in den nächsten Jahren immer stärker belasten werden. Das heißt im Umkehrschluss, dass immer weniger Ressourcen für notwendige Zukunftsinvestitionen da ist. Und drittens hat kaum ein gesellschaftliches Segment in den aktuellen Krisen (Pandemie, Energie) so viel Fokus und zusätzliche Ressourcen erhalten. Die finanzielle Lage hat sich für viele junge Familien etwa deutlich verschlechtert, etwa durch Kurzarbeit, Teuerung oder Probleme bei der Vereinbarkeit. Bei Pensionisten hat sich hingegen in den vergangenen Jahren durch außertourliche Pensionserhöhungen und Gießkannen-Hilfen die relative Einkommenssituation zur arbeitenden Bevölkerung noch einmal verbessert.
Ob es allerdings derartigen Reformmut geben wird, ist offen. Nur weil es keine Angst vor noch mehr Unpopularität gibt, muss Mut noch nicht die logische Konsequenz sein. Derzeit sieht man eher den panikartigen Griff zur Subventionsgießkanne, wann immer sich die Umfragen noch verschlechtern.