Wir Multiidentitäten
Mit dem engen Korsett der nationalen Identität, die immer noch fest im Denken des 19. Jahrhunderts verankert ist, ist in der postmodernen, komplexen Jetztzeit keine ernsthafte Diskussion möglich. Gerade der Nationalfeiertag sollte ein Denkanstoß dazu sein. Eine Betrachtung.
Die Debatte um nationale Zugehörigkeit und Patriotismus dreht sich fast immer nur um eine sehr enge Definition von „Identität“. Zugehörigkeit gibt es demnach praktisch nur zu einer Nationalität, Volksgruppe oder Kultur. Wie komplex Menschen sind, wie mannigfaltig unsere Identitäten eigentlich sind, wird kaum reflektiert.
Full disclosure: Der Autor dieser Zeilen ist Villacher, Kärntner, fühlt sich als begeisterter Teil der Alpe-Adria-Region und sieht damit Slowenien und Friaul-Julisch Venetien genauso als Teil seiner erweiterten Heimat an. Er ist Wahlwiener, Österreicher, Mitteleuropäer und begeisterter Europäer. Und wenn wir weg von regionalen Definitionen gehen und hin zu emotional-kulturellen Identitäten: Teil der westlichen Welt und Kultur mit all den historischen Verstrickungen durch Aufklärung, Revolutionen, Kolonialismus, Rassismus, Antisemitismus und der Shoa. Er ist Teil der LGBTIQ+-Familie, Chorsänger, und zum Drüberstreuen hat er noch eine nicht wirklich gut erklärbare Liebe zu allem, was britisch ist.
Das ist ein Beispiel einer Person, die nicht einmal Migrationshintergrund hat oder deren Eltern oder frühere Generationen viel gereist oder von irgendwoher eingewandert waren. Und trotzdem wird Identität, wenn es um Zugehörigkeit zu einer Kultur, zu einem Staat geht, immer als eine Ebene betrachtet. Worauf beruht diese Sicht?
Der Nationalstaat: Eine Idee mit langem Schatten
Das Phänomen der nationalen Identität, des Nationalstaats, ist verhältnismäßig jung. Die Idee der Nation als ein Staat, der eine Gruppe von Menschen mit derselben Sprache, derselben Geschichte und grob denselben Werten und Zielen umfasst, die auch zusammenarbeiten will, entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Zeit der großen Imperien.
Es blieb, wie der Historiker Eric J. Hobsbawm in Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780 betont, immer eine Fantasie – denn kein Staat hat diese engen Definitionen jemals wirklich erfüllt. Gerade der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn unter der konservativen Führung der Habsburger konnte dieser Bewegung nichts entgegensetzen und war schlichtweg überfordert. Die Idee des Nationalstaats, der Nationalismus, die hysterische Suche nach nationalem Purismus fütterte auch den Antisemitismus, der in dieser Phase von einem religiös motivierten zu einem nationalistisch motivierten Hass wurde. Diese Strömungen gipfelten in den zwei Weltkriegen, im „Rassenwahn“ der Nazis, in der Shoa, im Zeitalter der Extreme, wie es Hobsbawm beschrieb.
Und trotzdem, immer noch – die Debatten über nationale Zugehörigkeit wirken seltsam eindimensional.
Doppelstaatsbürgerschaften und Identitätsverlust
Wie unangenehm die Idee von multiplen emotionalen Identitäten für viele gerade in der öffentlichen Debatte ist, sieht man beispielsweise deutlich bei der verkrampften Frage von Doppelstaatsbürgerschaften. Vor allem rechte und konservative Kräfte übertreffen einander gerne bei der Ablehnung der Staatsbürgerschaft von zwei Ländern bei Migrant:innen. Das mitschwingende Misstrauen zeigt deutlich, dass man gar nicht die Möglichkeit sieht, dass eine Person sich verschiedenen Kulturen zugehörig fühlen kann – oder darf.
Da schwingt natürlich ein ordentliches Maß an Rassismus mit, geht es dabei doch – in den Köpfen jener, die diese Idee ablehnen – um Menschen aus Ländern, die in der inoffiziellen Rangliste der Rechten nicht mit begehrten Stockerlplätzen ausgezeichnet wurden. Das große, komplexe Thema der Zuwanderung und des sich wandelnden Gesichts der Bevölkerung wird mit der Angst vor dem nationalen Identitätsverlust verflochten.
Die Theorie des großen Austauschs, die in Telegram-Kanälen fröhliche Urständ feiert, nährt sich genauso von dieser Angst wie die Argumente gegen jedes Ausweiten des Wahlrechts oder eine Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechts. Die Idee der Kontrolle darüber, wer Teil der Nation werden darf und wie diese Personen auszusehen haben, ist ein mulmiges Echo des sich aufheizenden Nationalismus des langen 19. Jahrhunderts. Es scheint, dass die Identitätsdebatte die Vielschichtigkeit des Lebens in der Jetztzeit, der Teilhabe an verschiedenen Kulturen und Interessen nicht widerspiegelt.
Symbolbild, produziert mit DALL-E 2
Von Hobbys, Kulturen und Jedi
Diese Vielschichtigkeit transzendiert in Zeiten des Internets und globaler Popkultur auch schon lang die eng gefassten Grenzen von nationalen oder lokalen Regionen. Eine Programmiererin in Utah, ein Krankenpfleger in Tokio und eine Polierin in Santiago de Chile könnten in der Definition à la Nationalstaat wenig miteinander zu tun haben. Und doch können sie durch Chats, Online-Gruppen oder dank ihrer gemeinsamen Liebe für Star Trek oder die Welt Tolkiens zusammenkommen oder sich grenzüberschreitend als Jedi fühlen.
Das mag als niedlicher Freizeitspaß abgetan werden – doch die Interessen, die uns in der Freizeit prägen, neigen dazu, einen immer größer Teil unseres Lebens und damit auch unserer bewusst angenommenen Identität zu definieren. Das ist ein Trend, der bereits in den 1980ern langsam deutlich wurde, als sich die Technologisierung der Arbeit abzeichnete, und hat seitdem nur noch weiter Fahrt aufgenommen. Angeblich so fest verankerte nationale Identitäten werden aufgebrochen – man trifft sich online als Elbin, als Ork oder Taure bei World of Warcraft, man ist Teil einer Community mit denselben Interessen.
Mehr noch gilt das auch für Hobbys, die eine kreative Arbeit betreffen. Chorgesang, Bands, Musikschaffende, Interessengruppen für Autor:innen oder Ähnliches – kreative Hobbys haben nichts mit nationaler Identität zu tun, und können doch massiv das Selbstbild einer Person prägen.
Und auch Teil der LGBTIQ+-Community zu sein, überkommt nationale Identitäten oder deren Zuschreibung. Wer die formale Strenge erlebt, mit der Mehrheitsgesellschaften meinen, urteilen zu müssen, wen man liebt – und das nur aufgrund des wahrgenommenen Geschlechts der Person – der wird sehr bald erkennen, dass dieses Schablonendenken nichts mit Lebensrealitäten zu tun hat. Genau deshalb tendieren die Kommentare von rechter und konservativer Seite bei Gleichstellungsfragen auch so dazu, schnell schrill zu werden, sieht man doch die eigene Deutungshoheit gefährdet.
Die binäre Definition, was eine Person zu sein hat, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Vorstellung, was ein Volk, eine Nation zu sein hat, ist es genauso wenig.
Darüber müssen wir nachdenken. Gerade in Österreich, das am Nationalfeiertag der immerwährenden Neutralität gedenkt, verliert sich die gepflegte Identität immer noch irgendwo zwischen Lipizzanern, Topfenstrudel, Großglockner und Trachten. Ganz zu schweigen von der Einsicht, dass Identität(en) eben auch so viel mehr als regionale, lokale Zuschreibungen sein können, oder gar kulturell geprägt und bewusst gestaltet werden. Ob wir uns dazu aufraffen können, die Wirklichkeit endlich anzuerkennen? Wenn wir es wie Franz Grillparzer sehen, wird es wohl noch dauern:
Auf halben Wegen und zu halber Tat
Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.