Die serbische „Stabilokratie“
Im Jahr 2000, nach dem demokratischen Regimewechsel in Serbien, hätte wohl kaum jemand vermutet, dass Hauptfiguren des Milošević-Regimes schon bald wieder an den Schalthebeln der Macht sitzen würden. Aber genau das ist seit 2012 der Fall: in der „Stabilokratie“ von Aleksandar Vučić.
Der politische Kurs von Aleksandar Vučić lässt sich in wenigen Worten beschreiben: radikaler Wolf in fortschrittlichem Schafspelz. Denn nach einer 15-jährigen Polit-Karriere bei der Serbischen Radikalen Partei (SRS) wechselte Vučić 2008 zur Serbischen Fortschrittspartei (SNS), die der bisherige Partei-Vize Tomislav Nikolić kurz zuvor gegründet hatte.
Anfänge einer steilen Polit-Karriere
Zu Zeiten des Milošević-Regimes war Aleksandar Vučić noch SRS-Generalsekretär, als radikaler Informationsminister wurde er während der NATO-Bombardements für seine rigiden Zensurmaßnahmen bekannt. Trotzdem katapultierte er sich bald als „Fortschrittspolitiker“ an die Spitze Serbiens – schließlich gelang es ihm, sich gegenüber der EU und Russland als stabiler Faktor am Balkan zu inszenieren.
Der Grund: Weder der von liberal-demokratischen Parteien versprochene Wohlstand noch der baldige EU-Beitritt waren in Serbien eingetreten. Enttäuscht wandte sich die Bevölkerungsmehrheit – im ewigen EU-Warteraum – von den bis dahin regierenden liberal-demokratischen Regierungen ab. Das rief das ethno-nationalistische Lager mit rechtspopulistischen Heilsversprechen auf den Plan. Lösungen für soziale Missstände kamen ironischerweise gerade von Politiker:innen aus dem zuvor verhassten Milošević-Regime. Allesamt autokratische Parteien.
Vier Jahre nach ihrer Gründung, nämlich 2012, gelang der SNS der Sprung an die Staatsspitze: Mit Vučić als Spitzenkandidaten gewann sie die Parlamentswahlen, mit Nikolić die Präsidentschaft. Von da an beginnt das „autokratische Drehbuch“, mit dem es die SNS, aber allen voran Vučić, schafft, sich machtpolitisch einzuzementieren. Diese Pseudodemokratie bzw. elektorale Autokratie in Serbien wird daher auch „Stabilokratie“ genannt, zusammengesetzt aus den Wörtern Stabilität und Autokratie. Laut dem Politologen Jovan Jovanović lässt sich der Weg zur serbischen Stabilokratie von 2012 bis 2021 in vier Phasen einteilen.
Phase 1: Erste Weichenstellungen
In der ersten Phase, bei den „ersten Schritten“ (2012–2014) übernahm Vučić noch als Vize-Premier u.a. die Kontrolle des serbischen Sicherheitsdienstes. Damit legte er die Weichen für sein späteres wirtschaftliches Patronagesystem und die folgenden drastischen Einschnitte gegen Meinungs- und Pressefreiheit. Sein Ziel: die politischen Gegner zu diskreditieren. Darauf reagierte auch die EU besorgt, denn seit 2012 ist Serbien offiziell ein EU-Beitrittskandidat.
Phase 2 und 3: Auf dem Weg zur völligen Kontrolle
In der „bestätigten Legitimität“ (2014–2017) ging es um strikte Sparmaßnahmen: eine Verbesserung der serbischen Infrastruktur, daneben Vermeidung von Reformen im öffentlichen Sektor und die Öffnung für internationale Investoren, vor allem aus China. Daneben bleibt die EU bis heute größter Handels- und Investitionspartner.
Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl startete Vučić nunmehr als serbischer Präsident mit Phase 3, der „völligen Kontrollübernahme“ (2017–2020). Dazu installierte er die Regierungschefin Ana Brnabić wie auch alle anderen Regierungsmitglieder vorwiegend als ausführende Organe seiner Vorgaben – und das trotz der verfassungsrechtlich klaren Gewaltenteilung. Mit dem etablierten Klientelismus sind seither kriminelle mit staatlichen Strukturen verwoben, oppositionelles Handeln nahezu unmöglich gemacht.
Phase 4 und 5: Polarisierung und Gewalt
In der „Covid-19-Phase“ (2020–2021) machte Vučić das wahr, was viele in Österreich auf Demonstrationen befürchteten: Als Präsident konnte er durch den ausgerufenen Ausnahmezustand schalten und walten, wie er wollte. Mit seiner Informationshoheit über kontrollierte Massenmedien und instrumentalisierte soziale Medien konnte er sich inmitten der Pandemie mit internationaler Impfdiplomatie als Beschützer der serbischen Nation inszenieren. Die regulär abgehaltenen Parlamentswahlen stärkten seine und die Position der SNS zusätzlich – ungeachtet erwiesener Unregelmäßigkeiten und vermuteter Wahlmanipulationen.
In der hier definierten fünften Phase „Gewalteskalation“ des Systems Vučić seit 2022 werden – wie zuvor in den 1990er Jahren – äußere Konflikte forciert, um von der Unzufriedenheit vieler Menschen in Serbien abzulenken. Gestärkt wird Vučićs Machtapparat durch globale autokratische Player wie Russland und China, die entweder kostengünstiges Öl und vor allem Gas liefern oder Serbien technologische Errungenschaften zum Ausspionieren von Regimekritker:innen oder Protestierenden zur Verfügung stellen. Stichwort: Huawei-Zentrum in Belgrad.
Alte Schablone Hate Speech
Landesweite Proteste hat es seit den rigiden Corona-Maßnahmen viele gegeben – zuletzt ausgelöst durch Vučićs Fehlverhalten im Zuge von zwei Amokläufen im Mai 2023, die dutzende Kinder und Jugendliche das Leben kosteten. Anstatt den Angehörigen vor Ort Empathie zu zeigen und sein Beileid auszusprechen, wetterte Vučić bei einer unmittelbar einberufenen Pressekonferenz pauschal gegen den negativen westlichen Einfluss auf die serbische Gesellschaft.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Derartige Hassreden, Hate Speech, die die Grundlage von Gewaltexzessen sind, hat Vučić in seiner inzwischen 30-jährigen Kriegsrhetorik internalisiert – zuerst als Crvena-Zvezda-Hooligan, dann als Parteifunktionär. Aus Wut über seine dreiste Taktlosigkeit und unzureichende Waffengesetze solidarisierten sich zehntausende Menschen mit den Verbliebenen in diesen landesweiten Trauer-Protesten. Sogar von einem jetzt erforderlichen Rücktritt Vučićs und Neuwahlen im September war die Rede.
Ein neuer Kosovo-Konflikt
Wie zuvor Milošević, forciert Vučić seit 2022 wieder den Konflikt mit dem Kosovo, um die Opposition im Inneren zu unterdrücken und die eigene Machtposition zu sichern. Im kosovo-albanischen Premier Albin Kurti, der genauso wenig Kompromissbereitschaft zeigt, hat er dabei einen dafür idealen Gegenspieler gefunden. Ende September kam es zu einem Gewaltexzess im Norden Kosovos, als 30 serbische Paramilitärs die kosovarische Polizei angriffen und letztlich ein albanischer Polizist und drei der maskierten Angreifer nach einem stundenlangen Schusswechsel getötet wurden. Vorerst bestehen lediglich Vermutungen, dass die politische Führung in Belgrad in den Anschlag der serbischen Paramilitärs verwickelt war. Fest stehen allerdings die tiefen Verstrickungen von staatlichen, kriminellen und paramilitärischen Kreisen.
Während also Premier Kurti und die Präsidentin Vjosa Osmani Belgrad hinter diesem Anschlag vermuten (wie auch bei letzten Berlin-Prozess-Gipfel in Tirana betont), dementiert Vučić eine derartige Involvierung vehement, u.a in einem CNN-Interview, wiederum von der regierungsunabhängigen Presse kritisch rezipiert. Diesem Sachverhalt geht inzwischen die Biden-Administration vor Ort nach, die KFOR, NATO-Truppe vor Ort, wird ebenfalls aufgestockt. Weiters laufen Ermittlungen in Serbien und der Republika Srpska.
In Belgrad verhaftet und verhört wurde Milan Radoičić, der frühere Vizevorsitzende der serbisch-kosovarischen Partei „Serbische Liste“ – bekanntlich Belgrad-treu. Er wird verdächtigt, einer der Drahtzieher zu sein. Laut neuesten Angaben kamen die Waffen aus Tuzla, nicht aus Belgrad (was eine Belgrad-Tuzla-Connection nicht ausschließt). Und Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, gehört wie der serbische Geheimdienstchef Aleksandar Vulin und ein großer Teil der serbischen Armee zu Putins Verbündeten.
„Weiße Pest“
Wovon diese neuen bilateralen Spannungen nur kurzfristig ablenken können, sind die seit Jahrzehnten anhaltend ungünstigen demografischen Entwicklungen (vorwiegend Brain Drain), verbunden mit einem teils eklatanten Fachkräftemangel. Ungefähr 100.000 Pensionist:innen sind wieder in die Beschäftigung zurückgeholt worden. Denn die Bevölkerungszahl ist von 2005 mit knapp 7,4 Millionen bis 2022 auf ca. 6,8 Millionen geschrumpft, also um 600.000 Menschen. Damit liegt die Emigrationsrate höher als die Geburtenrate, was die einstige Regierung unter der Demokratischen Partei bereits 2010 unter dem Begriff „bela kuga“ bzw. „weiße Pest“ problematisierte und einen dramatischen Vergleich fand: „Jedes Jahr stirbt ein Dorf aus.“
Umso tragischer fällt heute diese Entwicklung aus, weil trotz vorerst gutem Wirtschaftswachstum unzählige Menschen das Land verlassen. So haben weit verbreiteter Klientelismus, der stockende EU-Erweiterungsprozess und zahlreiche Einschnitte in bürgerliche Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit eine tiefgreifende Unzufriedenheit und damit Kultur der Abwanderung geschaffen. Ein serbischer Treppenwitz lautet: Fragt Präsident Vučić einen Schüler beim Empfang einer Schulgruppe: „Was willst du denn einmal werden?“ Antwortet dieser: „Ausländischer Staatsbürger.“