So wurde Ungarn „orbánisiert“
Die EU-Erweiterung 2004 bedeutete einen großen Schub für die Vision eines geeinten Europas, vor allem nach dem Ende des Staatssozialismus und der damit einhergehenden liberal-demokratischen Euphorie der 1990er Jahre. Aber Ungarn nahm einen anderen Weg: Seit 2010 führt Viktor Orbán sein Land aus opportunistischem Machtkalkül in Richtung Autokratie.
Die politische Karriere von Viktor Orbán – und damit die Ursprünge seiner Partei – reichen bis zum Jahr 1988 zurück, als er mit seinen Studienkollegen am Bibo College, nahe Budapest, die Fidesz bzw. „Allianz junger Demokraten“ gründete.
Aus heutiger Sicht überraschend: Ursprünglich war diese Partei liberal ausgerichtet, in klarer Abgrenzung zur staatssozialistischen Regierung. Sie zählt zu jenen Kräften, die das Ende der bereits bröckelnden Sowjetmacht in Ungarn beschleunigt haben. Bei den ersten Parlamentswahlen 1990 erreichte die Fidesz unter dem damals noch jungen, aber überzeugenden Redner Orbán überraschend 22 von 386 Parlamentssitzen.
Ihre ideologische Ausrichtung sollte sich bis heute noch zweimal ändern, sodass in Fachkreisen der Aufstieg der Fidesz und dessen Gründer, Parteichef Orbán, in drei Phasen unterteilt wird:
- in die liberale Phase bis Anfang der 1990er Jahre
- in die Zeit nach der Neu-Positionierung als national-konservative Partei 1996
- in die bis heute gültige Phase als rechtspopulistische Partei mit Verbindungen zur rechtsextremen Szene seit 2002, darunter auch die rechtsextreme Partei Jobbik.
Diese Radikalisierung schlug die Fidesz nach ihrer nur vierjährigen Regierungszeit (1998–2002) als Oppositionspartei ein. Obwohl sie bei den Parlamentswahlen 2002 zwar die meisten Stimmen gewonnen hatte, verhinderte eine liberale Koalitionsregierung Orbáns neuerlichen Machtantritt.
Beginn der Radikalisierung
Orbán schlug als oppositionelle Reaktion auf die neue liberale Regierung den Weg der Radikalisierung ein. Wie sich später zeigen wird, ist eine klare, fast radikale Abgrenzung von seinen politischen Gegnern eine gängige Strategie Orbáns: In den 1990er Jahren positionierte er sich und seine Partei in Abgrenzung zur postkommunistischen Regierung unter dem einstigen staatssozialistischen Außenminister Gyula Horn als „national-konservativ“.
Gyula Horn ist übrigens durch ein gemeinsames Bild mit dem damaligen ÖVP-Außenminister Alois Mock international bekannt worden. Auf diesem 1989 inszenierten und inzwischen ikonenhaften Bild geben beide Politiker vor, den – bereits zuvor abgetragenen – Stacheldraht zu durchschneiden. Als erster demokratisch gewählter ungarischer Premierminister machte er sich infolge strikter Wirtschaftsreformen und Austeritätsmaßnahmen allerdings rasch unbeliebt. Außerdem haben ihm viele Menschen in Ungarn seine prosowjetische Haltung bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 nicht verziehen.
Gelegenheit macht Premiers
Für Orbán bot das wiederum die Gunst der Stunde. Mit seiner als national-konservativ und wirtschaftsliberal re-positionierten „Fidesz – Ungarischer Bürgerbund“ („Magyar Polgári“) gewann er die darauffolgenden Parlamentswahlen 1998 und formierte mit zwei weiteren national-konservativen Parteien eine vierjährige Koalitionsregierung – mit nur einer Legislaturperiode.
In die Opposition 2002 abgedrängt, radikalisierte Orbán seine als One-Man-Show geführte Fidesz mithilfe nationalisierter und xenophober Rhetorik, und zwar wieder in Abgrenzung zur Regierung. Sein raketenhafter Aufstieg begann acht Jahre später – nämlich 2010, als er mit rechtspopulistischer Rhetorik 52,7 Prozent der Stimmen gewann und mit einer Zweidrittelmehrheit zu regieren begann.
Der Weg zur Autokratie
Seitdem nutzt er die Parlamentsmehrheit der Fidesz, um den Rechtsstaat kontinuierlich auszuhöhlen und Ungarn zu seinem eigenen Vorteil in eine Autokratie umzuwandeln. Das betrifft alle Bereiche einer bisher liberalen Demokratie: Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit, Zivilgesellschaft, Medien und Wissenschaft. Den Beginn machte eine Verfassungsreform 2012 zu Ungunsten des Mitbestimmungsrechts der Opposition bei der Bestellung des Verfassungsgerichtshofs – und setzt sich weiterhin fort. Meinungs- und Pressefreiheit als wesentliche liberal-demokratische Grundpfeiler werden laufend torpediert. Während regimekritische Berichterstattung im wahrsten Sinne des Wortes ausgehungert werden soll, genießen regimekonforme Medien Finanzspritzen der Fidesz-Regierung. Zudem bedient sich Orbán auch sozialer Medien, um Regierungspropaganda zu betreiben – auch Influencer stehen zu seinen Diensten.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Rechtspopulistische Hetze
Dagegen werden zivilgesellschaftliches Engagement und sogar wissenschaftliches Arbeiten erschwert, wie an der gesetzlich perfide eingeleiteten Vertreibung der Central European University (CEU) ersichtlich. Und eine Wahlrechtsreform zu einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht macht es der marginalisierten Opposition fast unmöglich, Mehrheiten zu bilden. Zumal die Fidesz mit betont EU-kritischer, xenophober, antisemitischer wie auch islamfeindlicher und antifeministischer Hetze Stimmung macht und auf diese Weise seit 2014 die Parlamentswahlen gewinnt: In der sogenannten Migrationskrise bzw. Migrationspolitikkrise 2015 positionierte Orbán sich und seine Regierung vehement gegen die „Wir-schaffen-das“-Doktrin der einstigen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bis heute hält sein Antimigrationskurs an.
Im Streit mit der EU
Ungarn weigert sich (zusammen mit Polen) weiterhin, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika aufzunehmen. Statt bei der landeseigenen Asylbehörde können geflüchtete Menschen nur in ungarischen Botschaften der Nachbarländer offiziell einen Asylantrag stellen. Das hat der Europäische Gerichtshof auch schnell als EU-widrig erklärt. Das Artikel-7-Verfahren, das bei einem Verstoß gegen EU-Werte eingeleitet wird, läuft noch immer.
Als einziges Druckmittel bleibt der EU das Einfrieren von Fördergeldern für Ungarn, zumal auch Unregelmäßigkeiten mit bisherigen EU-Mitteln bis hin zu Korruption im Raum stehen. Und das heizt wiederum den quasi unendlichen Teufelskreis von Orbáns Hetze gegen die EU an – um von eigenen antidemokratischen Machenschaften abzulenken.
Höchste Inflationsrate in Europa
Während sich Orbán als „echter“, nämlich als christlicher und authentischer Europäer inszeniert, schadet er mit seiner Symbolpolitik und Vetternwirtschaft der ungarischen Ökonomie. Denn Ungarn weist unter den EU-Mitgliedsländern die höchste Inflationsrate auf. Im Februar 2023 waren es sogar 25,8 Prozent, im Juni dann „nur“ noch 19,9 Prozent. Im Vergleich mit allen anderen OECD-Ländern weist Ungarn mit 15,6 Prozent sogar den höchsten Reallohnverlust auf.
Zurückgeführt wird das alles auf die – de facto nicht leistbaren – Wahlgeschenke bei den letzten Parlamentswahlen 2022. Um sich an der Macht zu halten, war Orbán jede ökonomische, politische und rechtliche Manipulation Recht. Jetzt ist die Stimmung schlecht. Obwohl Ungarn die eingefrorenen EU-Gelder dringend benötigt, bleibt Orbán bei seiner rechtspopulistischen und isolationistischen Anti-EU-Haltung.
Unwirtschaftlich und antidemokratisch
Gerade im Fall Ungarns zeigt sich, dass vor allem Rechtspopulist:innen die Verantwortung für schlechte Wirtschaftsdaten gerne von sich abwenden und anderen – in diesem Fall der EU – die Schuld an der vorherrschenden Inflation und Rezession geben. Damit soll von kleptokratischen und korrupten Machenschaften (auch mit EU-Förderungen an Ungarn) abgelenkt und jegliches kritische, oppositionelle Nachfragen unterbunden werden.
Mit seiner vielzitierten „illiberalen Demokratie“, als Essenz im „Schutz christlicher Freiheit“ wie auch „Orbánisierung“ als Fremdbezeichnung beschreitet Orbán den Weg, eine bisher pluralistische Demokratie in eine autoritäre, sprich illiberale zu verwandeln. Eine Begleiterscheinung derartiger Abwege sind gute Verbindungen zu anderen autokratischen Verbündeten in der Nachbarschaft, allen voran zu Serbien unter Präsident Aleksandar Vučić, das ebenso wie Ungarn im aktuellen V-Dem-Report als „elektorale Autokratie“ bezeichnet wird – also als Staat, in dem es Wahlen gibt, der aber trotzdem autoritär ist. Höchste Zeit also, auf EU-Ebene noch wirkungsvollere Sanktionen zur Schwächung von Autokrat:innen und zeitgleich Maßnahmen zur Stärkung von liberal-demokratischen Kräften im jeweiligen Land zu setzen.