Drei Staaten, ein Opfermythos
Interessant an der Achse Putin-Orbán-Vučić ist neben der klientelistischen und antidemokratischen Interessengemeinschaft auch die symbolische Ebene: Schließlich betreiben alle drei rechtspopulistischen Machthaber Symbolpolitik. Dafür greifen sie auf bereits bestehende politische Mythen zurück. Mit diesen können sie die Vergangenheit nach eigenem Interesse deuten – und gegenwärtige Vorgänge dementsprechend lenken.
Viktor Orbán, Aleksandar Vučić, Wladimir Putin – alle drei Autokraten berufen sich nicht auf Gründungs-, sondern auf Opfermythen.
Aber was wäre eigentlich so ein „Gründungsmythos“? Zu den berühmtesten zählt jener der Französischen Revolution 1789, die nicht nur einen Grundstein für den modernen Staat Frankreich legte, sondern auch für die uns bekannten bürgerlichen Freiheiten und die liberale Demokratie.
Die drei besagten Autokraten instrumentalisieren dagegen Opfermythen für antidemokratische Zwecke. Und gerade Opfermythen bezeichnet der Sozialanthropologe Ivan Čolović als die gefährlichsten, weil sie zur Wiederherstellung von geglaubter Gerechtigkeit aufrufen – und folglich zur Rache bzw. zum politischen Revanchismus. Das beinhaltet in weiterer Folge einen Konflikt oder schlimmstenfalls Krieg gegen das zuvor ausführlich gezeichnete Feindbild. Gegen dieses müsse ja das eigene, als homogen verstandene, „Volk“ beschützt werden.
In dieser populistischen Manier verwenden auch alle drei Autokraten ähnlich strukturierte Opfermythen, um die jeweils eigene Machtposition zu legitimieren. Schließlich würden sie qua Präsidentenamt (Putin, Vučić) bzw. Regierungsamt (Orbán) ihr eigenes „Volk“ gegen innere und äußere Feinde verteidigen: im Äußeren der Krieg gegen die Ukraine, im Konflikt mit dem Kosovo und mit Stacheldraht gegen irreguläre Migration.
Im Inneren bedeutet das die Unterdrückung liberal-demokratischer Opposition – und damit die Zerstörung einer liberalen, pluralistischen Gesellschaft. Eine Entwicklung auf Basis von Xenophobie, Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Antifeminismus sowie Misogynie und Homophobie sowie Anti-LGBTIQ-Haltungen. So unterschiedlich die jeweiligen Mythen in ihrer Erzählung auch sind, so ähnlich sind sie in ihrer antidemokratischen Auswirkung.
Serbien: Der Kosovo-Mythos
Gemäß dem hier vergleichsweise ältesten und vielleicht auch wirkungvollsten Mythos, dem Kosovo-Mythos, wurde bei der Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1389 das serbische König- bzw. Zarenreich vom Osmanischen Reich hinterhältig unterworfen und über fünf Jahrhunderte unterdrückt. Obwohl das serbische Großreich bereits zuvor zerfallen war und nicht erst im Zuge dieser Schlacht, wird dennoch diese Legende in der Überlieferung gerne als Grund allen Übels herangezogen – dass nämlich ab diesem Zeitpunkt die verhasste 500-jährige osmanische Fremdherrschaft in ganz Südosteuropa begonnen hat. Historiographisch betrachtet gab es schon früher infolge interner Zwistigkeiten ein Machtvakuum.
Dass sich diese Erzählung von der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo polje) so lange halten kann, liegt an der serbisch-orthodoxen Kirche. Sie ist über all diese Jahrhunderte die zentrale Hüterin der serbischen Identität geblieben. Zunächst definierte sich diese ja nur über die Religion, mit dem „Import“ des Nationalismus aus Westeuropa im 19. Jahrhundert, dann zusätzlich über die Sprache und Ethnizität. Problematisch an der serbisch-orthodoxen Kirche ist bis heute, dass sie mit ihrem Hochhalten vom Kosovo als „Wiege des Serbentums“ Konflikte und Kriege zusätzlich anheizt, anstatt zu deeskalieren.
Im Sinne der mobilisierenden Erzählung eines unterdrückten Volkes und dem damit verbundenen Ethno-Nationalismus (mit der Forderung eines „Großserbiens“) begann auf serbischer Seite die psychologische Vorbereitung auf die Jugoslawienkriege der 1990er Jahre – obwohl es realpolitisch um konkurrierende Macht- und Gebietsansprüche sowie persönliche Bereicherung unter der völlig zerstrittenen jugoslawischen Elite ging.
Den ersten Schritt machte das oft zitierte „Großserbische Memorandum“ der Serbischen Akademie der Wissenschaften 1986, weil es erstmals von der Benachteiligung und Unterdrückung der serbischen Bevölkerung in Jugoslawien sprach. Eigentlich als internes Dokument gedacht, erschien es auf dubiose Weise in einer Boulevardzeitung, schlug Wellen und inspirierte den fortan nationalistischen Kurs des aufstrebenden Post-Kommunisten Slobodan Milošević. Er witterte als einer der Ersten, dass im zerfallenden Staatssozialismus eine neue Legitimität, die ethno-nationalistische, gefunden werden musste, um die eigene Machtposition halten zu können.
Heute dient dieser Mythos Vučić dazu, durch den schwelenden Konflikt mit der kosovo-albanischen Regierung von inneren Problemen wie weit verbreiteter Korruption und Klientelismus und damit verbundener Unzufriedenheit vieler Menschen im eigenen Land abzulenken.
Ungarn und das Trianon-Trauma
Das „Trianon-Trauma“ setzt am Vertrag von Trianon aus dem Jahr 1920 an. Damals wurde das einstige Königreich Ungarn im Zuge der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg von den Alliierten unter Druck gesetzt, zwei Drittel seines Staatsgebiets den umliegenden Nachbarländern zu überlassen.
Diese kollektive Erinnerung an die „tiefe Demütigung“ und „Ungerechtigkeit“ nutzt Orbán für populistische Zwecke, um einerseits die eigene, vorwiegend rechtskonservative und nationalistische Wähler:innenschaft zu mobilisieren, und andererseits mit „großungarischen“ Gebietsanforderungen die Regierungen der Nachbarländer zu provozieren – wiederum um bei den eigenen Wähler:innen zu punkten.
Auch im Fall Ungarns kann das alles als Ablenkungsmanöver von tatsächlich relevanten Problemen wie Klientelismus und Korruption in Regierungskreisen, wirtschaftliche Stagnation und Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit gewertet werden. Zudem setzt die EU neben dem Artikel-7-Verfahren auch das Einfrieren von Wirtschaftszahlungen an Ungarn als Druckmittel ein, um derart autokratischen Tendenzen einen Riegel vorzuschieben. Vorerst ohne Wirkung – obwohl Ungarn angesichts seiner Wirtschaftslage dringend zusätzliche Geldzahlungen benötigen würde.
Putinismus in Russland
Im Gegensatz zu den vorherigen zwei Mythen handelt es sich beim sogenannten Putinismus bzw. bei den offiziell so bezeichneten „Fundamenten der russischen Staatlichkeit“ um keine in sich geschlossene Erzählung mit einem konkreten Anlassfall – sondern um willkürlich zusammengesetzte Ideologieschnipsel mit dem Ziel, dem „russischen Volk“ endlich den lang ersehnten nationalen Stolz zu bringen.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine stellt demnach nicht nur eine „spezielle Militäroperation“ dar, sondern ist eine sozusagen natürliche Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs und des „Großen Vaterländischen Krieges“, der seit 1945 nicht beendet sei. Unwillkürlich drängen sich gewisse Assoziationen an Emir Kusturicas Parodie „Underground“ auf. So soll die aktuelle Kriegsbrutalität gegen die Ukraine, ganz im Sinne von Desinformation und Fake News, als Form der „Entnazifizierung“ und „Entsatanisierung“ legitimiert werden. Und das, obwohl es für derartige Behauptungen überhaupt keine Beweise gibt.
Nicht weniger wirr erscheint die Wir-Gruppe, wenn Putin das Ende der Sowjetunion einerseits überliefert als „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, andererseits diese im Vergleich zum einstigen großen Zarenreich abwertet und schon gar nicht den Staatssozialismus wiederaufleben lassen will. Zumal er kürzlich die „sowjetische Invasion Osteuropas“ als „Fehler“ bezeichnet hat und der Ukraine die staatliche Souveränität abspricht. Denn gemäß seiner Rhetorik wäre die Ukraine lediglich ein Konstrukt der ehemaligen Sowjetunion und daher bis heute kein eigener Staat. Das widerspricht den historischen Tatsachen, weil neben der serbischen und ungarischen auch die ukrainische Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht. Die ukrainische Volksrepublik formierte sich nach der Oktoberrevolution 1917, bevor sie 1922 die Sowjetunion mitbegründete.
Substanzielles Gefahrenpotenzial
Vor allem am Beispiel Russland, aber immer wieder auch am Beispiel Serbien kann man das antidemokratische bis aggressive Gefahrenpotenzial dieser Opfermythen beobachten. Sie werden willkürlich für die Rechtfertigung illegitimer Repressionen, Gewaltmaßnahmen und Kriegshandlungen herangezogen.
So soll Putin während des NATO-Gipfels in Bukarest 2008 dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush gesagt haben, die Ukraine nicht wirklich als eigenen Staat anzuerkennen. Bei diesem Gipfel bekundeten außerdem die Vertreter:innen der Ukraine und Georgiens ihr Interesse an einem NATO-Beitritt – das die NATO selbst wiederum mit Blick auf Russland nur sehr vage befürwortete. Wenige Monate später griffen russische Truppen Georgien an. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 folgte auf die als Euromaidan bezeichneten landesweiten Proteste in der Ukraine, die die prorussische Regierung zum Rücktritt und zur Ausrufung von Neuwahlen brachten.
Im Fall von Serbien ist der äußere Konflikt im Nord-Kosovo – mit vier Toten – eskaliert, als innenpolitisch die monatelangen Straßenproteste gegen das Vučić-Regime kein Ende finden wollten und sogar von dessen Rücktritt die Rede war. Noch im Mai hatte Vučić verkündet, dass es in Belgrad „keinen neuen Maidan“ geben werde. Zur Erinnerung: Die Jugoslawien-Kriege begannen im August 1991, fünf Monate nach der damals größten und brutal niedergeschlagenen oppositionellen Demonstration in Belgrad, dem „9. Mart“ (9. März 1991). Jetzt geht es darum, die Gewaltspirale zu beenden – und die angekündigten Neuwahlen in Serbien auch tatsächlich auszurufen, statt die katastrophalen Kriege der 1990er Jahre wieder herbeizurufen.
Bezogen auf Ungarn bewirken die symbolisch gestellten Gebietsansprüche von Viktor Orbán aufseiten der Nachbarländer entweder ein müdes Lächeln oder kurzzeitige bilaterale Verstimmungen. Verglichen mit Serbien und Russland haben sie bei weitem nicht diese Sprengkraft, funktionieren aber dennoch als verbindendes nationales Trauma. Und bei der Verbrüderung der Machthaber in Budapest, Belgrad und Moskau bieten alle drei Opfermythen den symbolischen und zugleich emotionalen Kitt – vereint im gemeinsamen Leid und geeint gegen die Ungerechtigkeit sowie Verschwörung des dekadenten Westens.