Russland und der plötzliche Präsident
Ein begeisterter Freudentanz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erfasste ganz Europa. Während Pink Floyd auf der abgerissenen Berliner Mauer ihr europaweit beachtetes Konzert gaben, liefen die Vorbereitungen für die friedliche Auflösung des Sowjetblocks und Entstehung neuer unabhängiger Staaten – ohne Angst vor der Roten Armee. In Russland selbst weckte der erste demokratisch gewählte Präsident Boris Jelzin große Hoffnung auf einen demokratischen Wandel. Stattdessen folgte der unkontrollierten Privatisierungswelle eine maßlose Raubwirtschaft. Diese chaotischen Verhältnisse ebneten den Weg für den neuen, lang unterschätzten Autokraten Wladimir Putin.
Dieser wurde im Jahr 2000 Präsident von Russland – ganz ohne Wahlen. Als sein Mentor Boris Jelzin überraschenderweise das Präsidentenamt zurücklegte, ernannte dieser sogleich den ehemaligen KGB-Agenten und kurzzeitigen Premierminister zum eigenen Nachfolger. Die vorgezogenen Wahlen wurden erst drei Monate später angesetzt. Und Putin nährte anfangs die Hoffnung, der zügellosen Oligarchenherrschaft unter verfeindeten Clans ein Ende zu setzen, wie auch für Stabilität zu sorgen.
Zumindest oberflächlich betrachtet, konnte Putins „Pseudodemokratie“ zunächst den Eindruck erwecken, Rechtsstaatlichkeit und damit Ruhe in das chaotische politische System zu bringen. In Wirklichkeit ging es dem neuen Präsidenten darum, den Spieß umzudrehen – und die russischen (vorwiegend männlichen) Oligarchen sowie deren Kapital unter seine eigene Kontrolle zu bringen.
Putin dreht die Einflussnahme um
Nachdem sie in den 1990er Jahren den russischen Staat ausgebeutet und Jelzins Wahlkämpfe nur aus eigenem Gutdünken gesponsert hatten, mussten die Oligarchen von nun an spuren. Auf Putins Zurufen hatte Geld zu fließen. Bei Meinungsverschiedenheiten folgte eine Gefängnisstrafe, wie die zehnjährige Haftstrafe (2003–2013) des ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski zeigte. Offiziell musste dieser wegen Steuerhinterziehung ins Straflager. Putin verwandelte den russischen Staat mithilfe von zentralisierter Bürokratie, Geheimdiensten und finanzieller Unterstützung der Oligarchen in ein antidemokratisches System.
Dass er es mit Steuerzahlungen selbst nicht so eng sieht, zeigt der Widerspruch zwischen offiziellen Zahlen und Schätzungen zu seinem Privatvermögen. Offiziell lebt Putin in einer 77 Quadratmeter großen Wohnung und verdient umgerechnet 117.000 Euro. De facto soll er zu den weltweit reichsten Männern zählen, mit einem Privatvermögen von über 40 Milliarden Euro.
Gemäß dem aktuellen V-Dem-Report der Universität Göteborg gilt Russland mittlerweile als elektorale Autokratie. In nur einem Punkt ist das heutige Russland demokratischer als die ehemalige Sowjetunion, nämlich dahingehend, dass allgemeine Wahlen stattfinden – auch wenn diese manipuliert werden.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Auf dem internationalen Parkett zeigte sich Putin gegenüber EU und USA anfangs kooperativ. Der einstige deutsche Bundeskanzler und mittlerweile Putins enger Freund Gerhard Schröder bezeichnete den russischen Präsidenten sogar als „lupenreinen Demokraten“.
Einen Einblick in seine Großmachtinteressen bot Putin spätestens in seiner Rede bei der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik 2007, wo er die USA und deren weltpolitische Dominanz direkt kritisierte und westliche, humanistische Werte offen ablehnte. All das, nachdem er in den ersten Jahren seiner Regentschaft in Russland und international als Hoffnungsschimmer für die Demokratisierung Russlands und Stabilisierung des postsowjetischen Raums gegolten hatte.
Jähes Ende pluralistischer Strömungen
Unter dem Deckmantel der Stabilisierung und Zentralisierung der Staatsmacht setzte bald eine Radikalisierung eben dieser Macht ein. Sämtliche, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufkommende pluralistische Strömungen fanden unterdessen ein jähes Ende – alles begleitet von der staatskonformen Medienpropaganda, die nicht nur gegen sogenannte Staatsfeinde hetzen, sondern auch wesentlich zu Putins Popularität beitragen sollte. Schließlich hatte Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht ausreichend Zeit, sich demokratisch zu konsolidieren. Eine gefestigte Gewaltenteilung sowie Meinungs- und Pressefreiheit konnten sich nicht so schnell entwickeln.
Mittlerweile sind Oppositionelle und all jene, die sich nicht regimekonform verhalten, entweder geflüchtet, mundtot gemacht, verhaftet oder sogar ermordet worden. Nach dem gescheiterten Versuch, den populärsten Oppositionspolitiker Alexei Nawalny zu vergiften, ist dieser mittlerweile zu einer insgesamt 30,5-jährigen Haftstrafe verurteilt worden. Angesichts der höchst gesundheitsschädigenden Haftbedingungen im Straflager besteht inzwischen Sorge um sein Leben.
Neuer russischer Zentrismus
Hatten unter Jelzins chaotischen Zuständen letztlich alle – wenn auch in Konkurrenz zueinander – die gleichen Interessen vertreten, nämlich Gewinnmaximierung, so begann sich unter Putins Herrschaft ein neues antiwestliches Narrativ auszubreiten, das die bisherigen Wirtschaftsinteressen des Landes und der Stakeholder zu konterkarieren begann. Denn was Revisionismus, und damit auch die Erzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ in erster Linie verhindert, ist der Aufbau von Zivilgesellschaft sowie liberaler Demokratie und schließlich ein liberales Markt- und Wirtschaftswachstum. Stattdessen hat Putin mit der Monopolisierung der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Macht begonnen, und zwar in Form eines neu eingeführten Zentrismus.
Demnach läuft der innerstaatliche, administrative Informationsaustausch ausschließlich vertikal mit dem Präsidentenbüro und nicht auch horizontal unter den Behörden selbst. Im Sinne dieses Macht- und Informationsmonopols hat sich Putin per Verfassungsänderung von 2020 eine Verlängerung seiner Amtszeit bis 2036 ermöglicht. Seiner Willkür ist innerstaatlich damit Tür und Tor geöffnet, wie auch am aktuellen Krieg gegen die Ukraine und Europa ersichtlich.
Krieg gegen die Ukraine
Die innerstaatlichen Restriktionen haben seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 einen bisherigen Höhepunkt erreicht. So darf dieser Krieg in Russland nicht einmal als solcher bezeichnet werden, bei Androhung von Gefängnisstrafen. Dieser daher scheinheilig als „Spezialoperation“ bezeichnete Krieg fügt sich in die Reihe der von Putins System provozierten Konflikte und Kriege – allen voran der zweite Krieg in Tschetschenien (1999/2000–2009), der Krieg in Georgien (2008) und die Besetzung der Krim (2014).
Der politische Korrespondent Greg Myre sieht übrigens Parallelen zwischen dem einstigen langanhaltenden Tschetschenien-Krieg und dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine: nämlich die Absicht, ein Land und dessen Infrastruktur völlig zu zerstören, gefolgt von einer erschreckend hohen Zahl an zivilen Opfern. Aus der Ukraine sind bisher mehr als neun Millionen Menschen über die ukrainisch-polnische Grenze geflohen, davon vorwiegend Frauen und Kinder.
Totalitäre Züge
In Russland selbst wurden kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 181 Medienkanäle gesperrt, 150 Strafverfahren eröffnet und 2.100 Bürger:innen wegen angeblicher „Diskriminierung“ der russischen Armee zu hohen Geldstrafen verurteilt. Infolgedessen haben mehr als 500.000 Russ:innen ihr Land verlassen – ein „historischer Exodus“. Viele von ihnen gehören zur jüngeren Generation, die schlicht um ihr Leben fürchten. Sowohl oppositionelles Engagement als auch Kriegsdienstverweigerung sind zu gefährlich geworden.
Offizielle Meinungsumfragen zeigen unterdessen eine hohe Popularität Putins in seiner mittlerweile vierten Amtszeit. Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im März 2024 könnten sogar mehr als 70 Prozent für Putin stimmen. Bei einem aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Machtwechsel wäre Hoffnung auf Demokratisierung genauso unangebracht. Schließlich kontrolliert der Kreml seit Jahren die Informationssphäre als einen entscheidenden Teil der hybriden Kriegsführung fast vollständig.
Hybride Kriegsführung gegen Europa
Spätestens seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 ist deutlich geworden, dass Putins Russland einen hybriden Krieg gegen Europa führt. Das beinhaltet neben der konventionellen Kriegsführung weiters Cyberangriffe, die Streuung von Desinformation über Troll-Fabriken und die willkürlich geschaffene Energie- und Nahrungsmittelknappheit – allen voran unterbundene Gaslieferungen nach Europa und das einseitig gekündigte Getreideabkommen mit der Ukraine. Dieses Verschmelzen von konventioneller und unkonventioneller Kriegsführung hat zum Ziel, die Schwachstellen des erklärten Gegners zu finden, auszunutzen und größtmöglichen Schaden anzurichten. Nicht zufällig geht es um die fast völlige Zerstörung der gegnerischen Infrastruktur.
Eine weitere deutlich subtilere Taktik der hybriden Kriegsführung ist die intensive Kontaktpflege mit antidemokratischen Politiker:innen in Europa – wie eben auch die gegenwärtige Putin-Orbán-Vučić-Achse zeigt.