Wie Gesundheitspolitik durch den Finanzausgleich blockiert wird
Der Finanzausgleich ist die große Hoffnung zur Rettung des Gesundheitssystems. Zumindest wirkt es in fast allen Interviews aktuell so, auch viele Medienberichte setzen angesichts des scheinbaren Kollaps auf diese Hoffnung. Von der Funktionsweise her könnte das theoretisch auch stimmen: denn der Finanzausgleich gibt den Rahmen zur Abwicklung des Gesundheitssystems vor.
Sich auf einen ambitionierten und zukunftsgerichteten Rahmen zu einigen, ist natürlich leicht, wenn man dafür mehr Geld bekommt – besonders wenn es keine Konsequenzen gibt, wenn ein Versprechen nicht gehalten wird.
ELGA: Ein Beispiel für (oder gegen) den Finanzausgleich
Am größten ist die Bereitschaft, sich auf große Ziele zu einigen, wenn jemand anderes für die Umsetzung verantwortlich ist – wie z.B. bei der Elektronischen Gesundheitsakte, kurz ELGA.
Auch für die ELGA GmbH sind die Ziele gesteckt, aber für die Praxis bleibt wenig übrig: Gerade einmal 110 Millionen Euro hat die ELGA von 2012 bis 2021 bekommen. Zum Vergleich: Das entspricht dem Budget für Schutzwasserbauten alleine im Jahr 2023.
Der Vergleich soll natürlich nicht die Relevanz von Schutzwasserbauten schmälern, sondern lediglich die politische Unterbewertung von ELGA demonstrieren. Denn ELGA funktioniert immer noch nicht so, wie es sollte. Die Bemühungen sind groß, und durch die Pandemie wurden einzelne Projekte sogar schneller als geplant umgesetzt – Stichwort E-Impfpass –, aber in der breiten Nutzung scheint es immer noch zu hapern. So sehr, dass die neue Geschäftsführung zur Verteidigung ansetzt und die mangelhafte Nutzung von ELGA mit benutzerunfreundlichen Anwenderprogrammen erklärt. Die Digitalisierung im Gesundheitssystem ist also ein Beispiel, wo der Finanzausgleich etwas bewegen kann – wenn mehr Geld zur Verfügung gestellt wird.
Neben den finanziellen Ressourcen wird sich aber besonders die Bereitschaft zur Nutzung von ELGA verändern müssen. So hat die Ärztekammer schon vor Einführung von ELGA Plakate gegen ELGA aufgehängt, auch 2019 hat sie Ärzt:innen von der Verwendung in Praxen abgeraten, und 2023 beschwert sich die Kammer, dass ELGA nicht ausreichend genutzt wird und verpflichtend vorgesehen sein sollte. Zehn Jahre Werbung gegen Digitalisierung machen und sich dann wundern, dass das Gesundheitssystem nicht ausreichend auf Daten und Vernetzung setzt. Sehr komisch.
Blockierer Ärztekammer?
Dabei darf diese Verhaltensauffälligkeit der Ärztekammer nicht unterschätzt werden. Was am Beispiel von ELGA wie eine Besonderheit wirkt, zieht sich durch. Viele der Ziele aus dem Finanzausgleich werden durch die Ärztekammer blockiert, so auch der Ausbau der Primärversorgungszentren oder die Diagnoseerfassung im niedergelassenen Bereich.
In Krankenhäusern ist es nämlich so, dass zumindest für stationäre, aber auch für immer mehr ambulante Leistungen dokumentiert wird, warum ein:e Patient:in im Krankenhaus ist. Diese Dokumentation ist der aktuell beste Einblick, welche Krankheiten die österreichische Bevölkerung so plagen. Ziel wäre ein Überblick, wie viele Diabetiker:innen, wie viele Menschen mit hohem Blutdruck es gibt usw. Im niedergelassenen Bereich – also in Arztpraxen – verrechnen Ärzt:innen aber nur ihre Leistungen an die Versicherungen weiter. Im Finanzausgleich 2017 wurde deshalb vereinbart, dass „eine zum akutstationären Versorgungsbereich kompatible Diagnosedokumentation im intra- und extramuralen Bereich“ sichergestellt werden sollte. Passiert ist: nichts.
Die Gründe für die Blockade der Ärztekammer? Die zeigen sich in ihren Aussagen. Beispielsweise dass es sich bei manchen Krankheitsfällen um „Verdachtsdiagnosen“ handle. Ärzt:innen würden in diesen Fällen nicht die Haftung für die Verschriftlichung oder z.B. den Eintrag einer möglicherweise falschen Diagnose auf sich nehmen (wollen). Was auch immer der konkrete Grund sein mag: Bisher gab es trotz dieses Ziels im Finanzausgleich keinen Weg, Diagnosen im niedergelassenen Bereich zu erfassen. Anträge dazu wurden im Parlament sogar vertagt. Nun ist das Thema aber wieder auf dem Tisch – und gehört zu den Forderungen, die schon zu Beginn der Verhandlungen an die Öffentlichkeit getragen wurden.
Warme Eislutscher
Die Liste mit alten Forderungen und Wünschen an den Finanzausgleich lässt sich beliebig lang fortsetzen. Kann etwas gegen den „Ärzt:innenmangel“ unternommen werden? Nein – denn es gibt keinen Ärzt:innenmangel, sondern eine Verteilungsproblematik. Die Ärzt:innen sind in den letzten zehn Jahren sogar mehr geworden, auch Studienplätze gibt es eigentlich genug. 30 Prozent der Medizinabsolvent:innen beginnen nach dem Abschluss aber nicht einmal, in Österreich zu arbeiten. Auch wird aufgrund der Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und Kassenverträgen mit der Arbeitszeit der vorhandenen Ärzt:innen keine ausreichende Versorgung angeboten. Das wird natürlich auch durch Patient:innen erschwert, die ohne ausreichenden Grund im Gesundheitssystem aufschlagen: Wer seit einem Tag Durchfall hat, muss nicht mitten in der Nacht in der Spitalsambulanz sitzen.
Genau solche Fragen fallen unter den Titel „Gesundheitskompetenz“. Auch deren Stärkung wurde im letzten Finanzausgleich als Ziel festgelegt. Oder die Gesundheitsvorsorge: Neben den Vorsorgeuntersuchungen der Sozialversicherungen – die nur knapp 15 Prozent der Bevölkerung nutzen –, gibt es nämlich auch in jedem Bundesland einen eigenen Gesundheitsförderungsfonds. Was genau diese tun, ist von außen aber unklar. Sicher ist nur, dass es eher wenige Varianten der Gesundheitsvorsorge gibt, die in einem Bundesland sinnvoll sind und in einem anderen nicht. Da der Finanzausgleich aber nur regelt, wie viel Geld jedes Bundesland dafür bekommt, gibt es keine (bekannten) Bestrebungen, diese Programme zu vereinheitlichen.
Irgendwo verständlich, werden doch für jedes Bundesland die Mittel verteilt, und diese wollen sich natürlich nicht nur als Umsetzer, sondern auch als Gestalter sehen. Die große Frage ist dabei: Wenn überall die gleichen Steuern und Lohnnebenkosten gezahlt werden – hat die Bevölkerung je nach Bundesland unterschiedliche Qualität verdient?