Fakes am laufenden Band: Die absurdesten Meldungen aus dem Kreml-TV
„Ukrainische Radikale kreuzigen Kinder“
„Hitlers Kopf wird auf der neuen ukrainischen Banknote abgedruckt werden“
„In Kyjiw ist es verboten, Russisch zu sprechen“
„In der Ukraine wird Russisch verboten“
Diese drei Mythen lassen sich mit Faktenchecks relativ leicht widerlegen. Absurde Geschichten wie der Hitler-Kopf oder die Kreuzigungen haben aber speziell im deutschsprachigen Raum weniger Niederschlag gefunden als das „Russisch-Verbot“, ausgerechnet in Kyjiw. Tatsächlich dominiert in der ukrainischen Hauptstadt die russische Sprache nach wie vor den Alltag, was man in der Öffentlichkeit auch hören kann. Bis zur Invasion 2022 wurden Russischkurse für internationale Besucher angeboten, Selenskyjs TV-Serie „Diener des Volkes“ ist zu einem großen Teil auf Russisch, und viele TV-Programme, Druckwerke etc. werden entweder auch, teilweise sogar ausschließlich, auf Russisch publiziert.
Kürzlich spazierte Vitali Klitschko durch die Innenstadt in Kyjiw und gab dem Journalisten Dmitry Gordon ein Interview auf Russisch. Erst vor wenigen Wochen behauptete der russische Außenminister im BBC-Interview, dass die russische Sprache in der Ukraine verboten sei. Der Moderator widersprach zwar, nannte aber leider keine konkreten Beispiele, warum diese Behauptung völlig absurd ist – ein Problem, auch im deutschsprachigen Journalismus.
Egal um welche Desinformation es sich handelt – Russland kann sich auf die professionell agierenden Trollfabriken verlassen, die in unterschiedlichen Sprachen weltweit die russischen Narrative unter das Volk bringen. Für alle Regionen der Welt gibt es eigene Abteilungen. Wer vielseitige Sprachkenntnisse hat, wird auch entsprechend höher entlohnt. Dass der Kreml auch in der Krisenkommunikation auf diese Fake-Profile setzt, zeigt auch eine Analyse von Tweets nach dem Abschuss der MH17.
Drahtzieher der Trollfabriken ist der Putin-Vertraute Jewgeni Prigoschin, aufgrund seiner Kreml-nahen Catering-Unternehmen auch als „Putins Koch“ bekannt. Auf Twitter konnte man bereits 2021 beobachten, dass enorm viele neue Profile entstanden sind, die Kreml-Positionen verbreitet haben. Viele davon haben neben prorussischen Positionen auch Inhalte aus dem Lager der Corona-Leugner gepostet. Aufgrund ideologischen Überschneidungen mit der Verschwörungstheoretiker-Szene waren aber nicht alle Profile, die sich auf diese beiden Themen fokussiert haben, Fakes. Vermehrt wurden russische Positionen – speziell die These des angeblichen Völkermordes im Donbas – direkt unter den Postings von Journalisten und Politikern platziert. Eine Taktik, die bereits 2014 genutzt wurde, um Verwirrung zu stiften und zu verunsichern.
„Militärischer Eingriff gegen die NATO-Bedrohung“
Die NATO gilt als eines der ultimativen Feindbilder der russischen Propagandamaschine. Trotzdem wurde von russischer Seite seit der Invasion Ende Februar relativ wenig über die „Abwehr“ der NATO-Bedrohung und viel über den „verhinderten Völkermord“ gesprochen. Hier liegt, denken wir an die Wochen und Tage vor der Invasion, ein großes Versäumnis der westlichen Beobachter, Analysten und auch Journalisten vor: Man nahm die Aussagen russischer Politiker und Diplomaten beim Wort, verbreitete ihre „Bedenken über einen NATO-Beitritt der Ukraine“ als tatsächliche Motive für eine potentielle Invasion. Die Aussagen der russischen Politiker wurden nicht im Kontext der Desinformationspolitik gesehen, sondern als „valide Argumente“.
Dabei wurde dem Nachbarland bereits lange davor die Existenzberechtigung entzogen, ein Völkermord unterstellt und im russisch besetzten Donbas beinahe täglich ein neues False-Flag-Video gedreht, von angeblichen ukrainischen Angriffen. Der fast schon kabarettreife Höhepunkt war ein Video eines angeblich schwer verwundeten Mannes, der bei einem ukrainischen Angriff ein Bein verloren haben soll. Tatsächlich ist aber in einigen Frames des Videos seine Prothese zu sehen – was auch erklärt, warum man ihn als Statisten für diese Aufnahmen gewählt hat.
„Die Sanktionen sind für die Wirtschaftskrise verantwortlich“
Zuerst sollte man sich die Frage stellen, warum überhaupt Sanktionen in Kraft getreten sind und wer dafür verantwortlich ist. Die Sanktionen wurden erst nach der Invasion Russlands beschlossen und sind eine direkte Reaktion auf den offenen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Hier wird viel zu wenig zwischen Ursache und Wirkung unterschieden.
Die Sanktionen sind auch nicht verantwortlich für die Lebensmittelkrise, denn für die Blockade in der Schwarzmeer-Region und die Zerstörung der ukrainischen Landwirtschaft ist allein Russland verantwortlich – gegen die Ukraine wurden ja keinerlei Sanktionen verhängt. Ebenso ist die Vorstellung, eine Einstellung der Kampfhandlungen vonseiten der Ukraine würde das Leid stoppen, entweder eine böswillige Täuschung oder eine naive Fehleinschätzung.
In den von Russland besetzten Gebieten wird die ukrainische Zivilgesellschaft systematisch verfolgt, es kommt zu Vergewaltigungen, Folter, Inhaftierung und Enteignung. Das kann man seit der Invasion im Februar 2022, aber auch schon zuvor in den 2014 ausgerufenen „Volksrepubliken“ im Donbas beobachten. Achtet man auf die genozidale Rhetorik von Politikern und Propagandisten im russischen Staats-TV, wird ebenso klar, dass Aufgeben für die Ukrainer keine Option ist und es dafür handfeste Gründe gibt, die über Patriotismus weit hinausgehen. Trotzdem ist im Diskurs immer wieder eine merkwürdige Äquidistanz zwischen Angreifer und Verteidiger zu beobachten: „Beide Seiten“ müssten deeskalieren. Man bezeichnet das auch als Bothsideism oder False Balance.
„Russland wäre nicht einmarschiert, hätte sich die Ukraine zur Neutralität bekannt“
Diese These kann man immer wieder hören, sie basiert aber auf mehreren Denkfehlern. Erstens ist Russland nicht erst 2022 gegen die Ukraine militärisch vorgegangen, sondern bereits 2014. Zweitens war damals noch gar keine Rede von einem NATO-Beitritt. Russlands Aktionen waren viel eher auf die Verhinderung einer EU-Annäherung (siehe EU-Assoziierungsabkommen) bezogen – man destabilisierte das Nachbarland, um einen erfolgreichen Entwicklungsprozess zu sabotieren. Russland hat bereits seit Jahren immer wieder die staatliche Souveränität und zuletzt offen das Existenzrecht der Ukraine infrage gestellt. Man braucht dazu nur Putins geschichtsrevisionistische „Lehrstunden“ zu studieren.
Dazu empfiehlt es sich auch, einen Blick auf die Nachbarschaft Russlands zu werfen. Länder in Russlands Umgebung sind entweder eng an den Kreml gebunden – im Falle von Belarus könnte man inzwischen von einem Vasallenstaat sprechen –, oder sie werden oder wurden militärisch destabilisiert, z.B. Moldawien, Georgien oder eben die Ukraine. Ausnahmen sind Staaten wie Estland, Lettland oder Finnland, die den Schutz der NATO genießen oder zumindest Mitglieder der Europäischen Union sind. Aufgrund der jüngsten Ereignisse haben sich die progressiv regierten Länder Schweden und Finnland nun auch zu einer Mitgliedschaft in der NATO entschieden. Vielleicht ist geografische Nähe ein gutes Heilmittel gegen grenzenlose Naivität.
„14.000 getötete Russen im Donbas“
Die Fakten widerlegen die russische Erzählung vom „Völkermord“. Insgesamt 3.404 Zivilisten starben im Rahmen des Kriegs in der Donbas-Region, in den letzten drei Jahren kam es zu weniger als 100 Todesfällen, davon wiederum gut die Hälfte durch Minenunfälle. Bei den zivilen Opfern handelt es sich um Personen auf beiden Seiten der Frontlinie, das heißt auch Opfer der russischen Angriffe, zum Beispiel bei der russischen Offensive auf Mariupol 2015. Auch in dieser Statistik eingerechnet sind die 298 Todesopfer des Passagierfluges MH17.
Warum kursiert aber im Web der Mythos von den 14.400 getöteten ethnischen Russen im Donbas? Die Zahl ist nicht komplett erfunden, beschreibt aber die Gesamtzahl an getöteten Menschen im Rahmen des Donbas-Krieges. Das bezieht auch die getöteten ukrainischen Soldaten und getöteten russischen bzw. „prorussischen“ Kämpfer (über 10.000) ein. Gehen wir also von den Zahlen und Fakten aus, ergibt die russische Völkermord-These keinerlei Sinn. Außerdem muss man bedenken, dass überall in der Ukraine Russisch gesprochen wird und russischstämmige Menschen leben. Und warum hat Kyjiw seinen „Völkermord“ auf den Donbas beschränkt und sich nicht auf Gebiete konzentriert, die man unter Kontrolle hat? Das alles hinderte den russischen Botschafter in Wien nicht daran, im Interview bei Richard Schmitts Exxpress die Ukraine für „14.000 getötete Zivilisten“ verantwortlich zu machen – eine Zahl, die definitiv nicht den Fakten entspricht.
Leider haben auch seriöse Medien, speziell in den Tagen vor der Invasion, die Positionen russischer Politiker und Diplomaten unkommentiert und nicht im Kontext der Desinformationspolitik zitiert. Speziell wenn es um Behauptungen in Bezug auf Ereignisse von 2014 bis 2021 geht, können russische Offizielle auch heute noch mit wenig Widerspruch ihre Version der Geschichte auch in westlichen Massenmedien verbreiten.
Der Grund ist das mangelnde Hintergrundwissen: Die Geschehnisse von 2014, zum Beispiel die russischen Warlords im Donbas, haben nur wenige Personen im Westen wirklich beschäftigt, eine schlagkräftige Widerlegung auf der Basis von Fakten ist vielen Medienvertretern schlicht nicht möglich. Deshalb bevorzugen russische Vertreter diese „alten Mythen“. Denn heute ist man besser vorbereitet, bisher hat kein seriöser Journalist die Aussage „es handelt sich nur um eine Spezialoperation“ unkommentiert stehen lassen.
DIETMAR PICHLER ist Programmatic Director am Zentrum für Digitale Medienkompetenz. Der geborene Wiener ist seit 15 Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Bereich Marketing und Kommunikation tätig. Nach seinem Masterabschluss im Bereich Kommunikationsmanagement absolvierte er diverse universitäre Fortbildungen in den Bereichen Wirtschaft, Internationale Beziehungen, European Studies und Social Media. Zudem ist Dietmar Pichler Initiator der europäischen Medienplattform „stopovereurope.eu“ und als Vorstandsmitglied des Vereins „Vienna goes Europe“ tätig.