Zehn Jahre russische Aggression
Seit zehn Jahren steht die Ukraine im Fadenkreuz der russischen Desinformation und Propaganda. Kein Staat wird von Putins Regime so stark dämonisiert wie das flächenmäßig größte vollständig in Europa liegende Land.
Russland verletzt heute nicht nur die territoriale Integrität seines Nachbarn, sondern spricht dem angeblichen „Brudervolk“ die Staatlichkeit und das Existenzrecht als souveräne Nation ab. Untermauert wird diese Politik mit einem mythenbasierten Geschichtsrevisionismus, der sich nicht nur auf die letzten Jahrhunderte, sondern in erster Linie auf die vergangenen neun Jahre bezieht. Russische Offizielle setzen auf unser Unwissen, um ihre Desinformations-Kampagne ohne Widerstand zu verbreiten. Im Gegensatz zur Legende der „Entnazifizierung“ eines Landes, in dem die Rechtsextremisten im Wahlbündnis nicht einmal 3 Prozent erreichen und der Präsident jüdischer Herkunft ist, oder den Behauptungen, dass es kein Krieg, sondern nur eine „Spezialoperation“ wäre, finden die falschen Erzählungen zum langjährigen Konflikt im Osten des Landes auch hier viele willige Abnehmer.
Das Ziel der Dämonisierung ist offensichtlich: Unsere Solidarität soll gebrochen, ja vielleicht sogar eine Parteiergreifung für Russland erreicht werden.
Der 22. Februar war für viele in Europa vielleicht nicht unbedingt der „Wendepunkt“, aber sicher ein Schockmoment. Dabei hat alles eigentlich viel früher begonnen. 2014 hat Russland die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Krim mithilfe von Soldaten ohne Hoheitsabzeichen – sogenannten grünen Männchen – militärisch besetzt und nach einem höchst fragwürdigen, international praktisch nicht anerkannten Referendum an sein Staatsgebiet angeschlossen.
Die frühen Anfänge des Ukrainekriegs
Ein wenig verdeckter ging man in der ostukrainischen Donbas-Region vor: Nationalistische russische Warlords übernahmen das Kommando und riefen die sogenannten „Volksrepubliken“ aus, als „Gegenpol zum ukrainischen Regime“.
Zentrale Figuren waren Igor „Strelkow“ („der Schütze“) Girkin und Aleksander Borodai. Beide stammen aus Moskau, waren dort als nationalistische Autoren tätig und träumten schon immer vom „Russischen Großreich“ und der „Wiederherstellung des Imperiums“. Borodai sitzt heute für die Putin-Partei „Einiges Russland“ in der russischen Staats-Duma. Girkin, der „Verteidigungsminister der Volksrepublik Donezk“, sagte selbst, er wäre „der Auslöser für den Krieg“ gewesen, aber er hätte vor Ort „keine 1.000 Kämpfer für ihre Sache gefunden“.
Somit ist auch erklärt, weshalb es notwendig war, dass die angeblichen Separatisten Unterstützung brauchten – nicht nur freiwillige Kämpfer aus Russland, sondern diverse „Urlauber“ aus der regulären russischen Armee. Diese Freiwilligen setzten sich aus diversen radikalen Gruppen mit rechtsextremem oder stalinistischem Hintergrund zusammen. Relative Bekanntheit erreichte der Anführer des Sparta-Bataillons, der Rechtsextremist Arsen „Motorola“ Pavlov. Auch er reiste aus Russland an und hatte keinen lokalen Hintergrund. Wie Igor Girkin werden auch ihm zahlreiche Kriegsverbrechen vorgeworfen, unter anderem die Exekution von Kriegsgefangenen.
Der Kreml hat sein direktes Eingreifen in den Krieg, z.B. mit Artilleriebeschuss, nie zugegeben. Der „Point of no Return“ war wohl der Abschuss der Passagiermaschine MH17 über dem Kriegsgebiet. 298 Menschen starben, als das Verkehrsflugzeug nahe der Stadt Tores von einer russischen BUK-Rakete getroffen wurde und abstürzte. Igor Girkin feierte den Abschuss auf Social Media – im Irrglauben, es würde sich um eine ukrainische Militärmaschine handeln –, löschte aber rasch sein Posting, als erkannt wurde, dass es sich um ein Zivilflugzeug handelte. Später behauptete er, mit dem Flugzeug wären „ohnehin nur Leichen transportiert worden“, sogenanntes Dosenfleisch. Eine der ersten absurden Verschwörungstheorien zu MH17, viele weitere sollten folgen.
Während die Indizien schon kurz nach dem Abschuss eindeutig auf die russischen Kräfte hindeuteten, wurde die russische Propaganda nicht müde, in den folgenden Jahren immer neue Theorien zu verbreiten, warum die Ukrainer eigentlich MH17 abgeschossen haben sollen. Noch im Jahr 2014 bezweifelte der Nationalratsabgeordnete Christoph Matznetter (SPÖ, damals noch in der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft) in der ATV-Sendung „Klartext“ den Abschuss durch russische Kräfte:
„Ich kenne nur Dokumente und Unterlagen, die eher darauf hindeuten, dass es BUK16-Raketen waren, die von der ukrainischen Truppen kommen (…) Wem nützt es, cui bono, das soll sich jeder für sich fragen.“
– Christoph Matznetter
Neun Jahre russische Aggression im Donbas
Warum ist dieser historische Ausflug in die letzten neun Jahre im Angesicht der offenen russischen Invasion 2022 so wichtig? Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens zeigen die Erfahrungen aus der Vergangenheit, wie die russische Propaganda Kriegsverbrechen leugnet, Verwirrung stiften und die ukrainische Gegenseite dämonisieren will. Der zweite Grund ist direkt mit der großflächigen russischen Invasion 2022 verbunden.
Egal in welchem Land russische Diplomaten unterwegs sind – in Interviewsituationen versuchen sie immer wieder das gleiche Narrativ unterzubringen:
- „Wir haben diese Spezialoperation begonnen, um einen Genozid im Donbas zu stoppen.“
- „Nach 8 Jahren ukrainischer Angriffe im Donbas mussten wir eingreifen.“
- „Die Ukrainer planten einen Großangriff, den wir verhindern mussten.“
Die Beobachtung zeigt: In vielen Fällen sind Journalisten oder Talkshow-Gastgeber mit dieser Kriegsbegründung überfordert, wechseln das Thema und sind sichtlich nicht in der Lage, dieses falsche Narrativ zu widerlegen. Dabei sprechen die Fakten sehr eindeutig gegen die russische Erzählung vom „Völkermord“: Insgesamt 3.404 Zivilisten starben im Rahmen des Krieges in der Donbas-Region. In den letzten drei Jahren kam es hingegen zu weniger als 100 Todesfällen, dabei waren gut die Hälfte davon auf Minenunfälle zurückzuführen. Bei den zivilen Opfern handelt es sich um Personen auf beiden Seiten der Frontlinie, das heißt auch Opfer der russischen Angriffe, zum Beispiel bei der russischen Offensive auf Mariupol 2015. Auch in diese Statistik eingerechnet sind die 298 Todesopfer des Passagierflugs MH17.
Warum kursiert aber im Web der Mythos von den 14.400 getöteten ethnischen Russen im Donbas? Die Zahl ist nicht komplett erfunden, sie beschreibt aber die Gesamtzahl an getöteten Menschen im Rahmen des Donbas-Kriegs. Das bezieht auch die getöteten ukrainischen Soldaten und die getöteten russischen bzw. „pro-russischen“ Kämpfer (über 10.000) mit ein. Gehen wir also von den Zahlen und Fakten aus, ergibt die russische Völkermord-These keinerlei Sinn.
Außerdem muss man bedenken, dass überall in der Ukraine Russisch gesprochen wird und russischstämmige Menschen leben. Warum hätte Kyjiw seinen „Völkermord“ auf die Donbas-Region beschränkt und sich nicht auf Gebiete konzentriert, die man unter Kontrolle hat? Bei der „ethnischen Säuberung“ hätten die Ukrainer übrigens gleich bei ihrem Außenminister beginnen müssen: Pawlo Klimkin (2015–2019 im Amt) ist in Kursk, Russland geboren und erst mit 24 Jahren in die Ukraine ausgewandert. Seine Position stand auch völlig im Widerspruch zur russischen Propaganda, wie praktisch der komplette tatsächliche Alltag in der Ukraine. Trotzdem machen genau diese alten Mythen gerade jetzt wieder verstärkt die Runde, speziell in den sozialen Medien. Immer im Kontext zur aktuellen Invasion und um Solidarität mit der Ukraine zu verhindern.
DIETMAR PICHLER ist Programmatic Director am Zentrum für Digitale Medienkompetenz. Der geborene Wiener ist seit 15 Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Bereich Marketing und Kommunikation tätig. Nach seinem Masterabschluss im Bereich Kommunikationsmanagement absolvierte er diverse universitäre Fortbildungen in den Bereichen Wirtschaft, Internationale Beziehungen, European Studies und Social Media. Zudem ist Dietmar Pichler Initiator der europäischen Medienplattform „stopovereurope.eu“ und als Vorstandsmitglied des Vereins „Vienna goes Europe“ tätig.