Die nicht so vereinigten Staaten von Europa
Alle fünf Jahre wieder. In den Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament wird in den Mitgliedsländern über europäische Politik diskutiert. In einigen Ländern mehr, in anderen weniger. Viele Parteien nutzen die Wahlen zur Schärfung ihres nationalen Profils, wenige stellen die aus ihrer Sicht zentralen europäischen Themen und Herausforderungen ins Zentrum der Wahlkampagne.
Und nach dem Wahltag ist vieles vorbei. Die gewählten Abgeordneten „verschwinden“ nach Straßburg und Brüssel, die Innenpolitik und die Öffentlichkeit nehmen kaum mehr Notiz von ihnen. In der Pressestunde kann man die Spitzenkandidat:innen in fünf Jahren wieder sehen. Europa und die EU fristen ein Schattendasein, außer es herrscht mal wieder übernationaler oder sogar globaler Krisenmodus. In diesem Fall nimmt der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs das Zepter des Handels in die Hand. Die fehlende Sichtbarkeit des Parlaments mag auch eine Erklärung für die geringe Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen sein. Im Jahr 2019 betrug diese EU-weit 50,66 Prozent.
Die EU: Eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte
Seit seiner Grundsteinlegung durch die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1952 hat der europäische Einigungsprozess maßgeblich zur positiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Europas beigetragen. Neben der Sicherung des Friedens zwischen den Mitgliedstaaten hat vor allem die schrittweise wirtschaftliche Integration bis hin zur Schaffung des europäischen Binnenmarkts den heutigen Wohlstand Europas befördert.
In der ökonomischen Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass der Abbau von Handelsbarrieren durch den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, der freie Kapitalverkehr und die Personenfreizügigkeit zu einer stärkeren ökonomischen Integration der Mitgliedstaaten geführt haben. Mehr grenzüberschreitender Handel, mehr Wettbewerb, eine effizientere Allokation von Unternehmensinvestitionen und eine zunehmende Arbeitskräftemobilität haben die EU zu einem der ökonomisch potentesten Wirtschaftsräume der Welt gemacht.
Österreich hat durch seine zentrale geografische Lage und die historisch bedingten Startvorteile in den ab 2004 neu beigetretenen EU-Mitgliedsländern von den Binnenmarktvorteilen überdurchschnittlich profitiert. Die starke wirtschaftliche Verflechtung mit dem ökonomischen Powerhouse Deutschland hat über Jahrzehnte die globale Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie gefestigt. So weit, so gut. In einer wissenschaftlichen Vergangenheitsbetrachtung ist diese Erzählung durch überzeugende empirische Evidenz abgesichert.
Binnenmarkt oder Subventionswettlauf?
In Anbetracht des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, des sich ökonomisch zuspitzenden Systemwettbewerbs zwischen den USA und China – gerade hat die Biden-Administration weitere Zollerhöhung auf strategisch relevante Güter aus China angekündigt – stellt sich akut jedoch die Frage, welche Rolle die EU als drittgrößte Volkswirtschaft in Zukunft einnehmen möchte. Jedes einzelne EU-Mitgliedsland ist auf globaler Ebene ökonomisch wenig sowie militärisch und sicherheitspolitisch betrachtet noch weniger bedeutend, und wird durch den Aufstieg anderer großer Länder wie etwa Indien und dem „Aufbegehren“ anderer BRICS-Mitglieder weiter an Bedeutung verlieren.
Das größte Asset der EU ist ihr Binnenmarkt mit seinen 450 Millionen kaufkräftigen Konsument:innen. Die europäische Kaufkraft zu stärken und gleichzeitig die wirtschaftliche Konvergenz zwischen den Mitgliedsländern zu beschleunigen, das sollte allein schon aus geopolitischen und geoökonomischen Erwägungen im Zentrum einer zukünftigen und weitsichtigen EU-Politik stehen. In diesem Zusammenhang gilt es kritisch zu hinterfragen, ob der aktuelle politische Schwerpunkt auf größtenteils regulatorische Maßnahmen gepaart mit hauptsächlich nationalstaatlichen industriepolitischen Elementen, aber auch die institutionellen Rahmenbedingungen hierfür geeignet sind oder eines Umdenkens und Reformen bedürfen.
So neigt etwa die europäische Industriepolitik in ihrer Ausgestaltung dazu, die Einkommenskluft innerhalb der EU zu verstärken und die Integrität des Binnenmarkts zu gefährden. Die Mitgliedsländer mit mehr budgetärem Spielraum können mehr an Steuergeldern in die industriepolitische Schlacht werfen. Deutschland subventioniert den Bau einer Intel-Chipfabrik in Magdeburg mit 10 Milliarden Euro, eine Northvolt-Fabrik für Elektroauto-Batterien an der deutschen Nordseeküste lassen sich die deutschen Steuerzahler:innen noch einmal 900 Millionen Euro kosten. Viel Geld, das die Finanzminister:innen der südlichen Mitgliedsländer wohl nicht in ihrer Portokasse haben.
Ob im globalen Wettbewerb, in dem die USA und China deutliche höhere Fördersummen in Aussicht stellen können, ein Subventionswettlauf für Europa langfristig erfolgversprechend sein kann, könnte auch grundsätzlich hinterfragt werden. Zur Förderung von Mikrochips haben die USA ein Paket in Höhe von 280 Milliarden Dollar geschnürt, während der Europäische Chips Act 42 Milliarden Euro „leicht“ ist. Wie hoch die chinesischen Subventionen sind, lässt sich aufgrund mangelnder Transparenz von außen bestenfalls grob abschätzen, doch sie dürften die Ausgaben der USA nochmals deutlich übersteigen.
Es geht wieder um was
Bei einer Wahlentscheidung ist der Blick in die Vergangenheit nicht unbedeutend. Er erlaubt es uns, die Performance der Politik und Institutionen zu bewerten und unserer (Un-)Zufriedenheit mit dem Gewesenen Ausdruck zu verleihen. Nicht weniger sollten wir uns jedoch auch mit den alternativen Zukunftskonzepten der wahlwerbenden Parteien beschäftigten, deren Vorschläge auf den Prüfstand stellen und auf Basis unsere persönlichen Vorstellungen in die konkrete Wahlentscheidung einfließen lassen.
In unsicheren Zeiten und neuen geopolitischen Realitäten gilt dies umso mehr. Hier kann ein „weiter wie bisher“ sowie (radikale) Reformvorschläge alles beinhalten, jedoch müssten die Positionen argumentativ vertreten und inhaltlich untermauert werden. Das Ende von Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ fordert uns alle mehr, als wir das drei Jahrzehnte gewohnt waren. Es geht wieder um was.
„Europa besteht aus Staaten, die sich nicht vorschreiben lassen wollen, was sie selbst beschlossen haben“, hat der österreichische Kabarettist Werner Schneyder die EU im Rahmen des „Aschermittwochs der Kabarettisten“ einmal etwas zynisch charakterisiert. Aber wenn man nur beispielhaft an die Aussetzung der Defizitverfahren gegen Deutschland und Frankreich im November 2003 denkt, oder die abweichend zum Spitzenkandidatensystem vorgenommene Bestellung von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission nach der letzten EU-Wahl, hat er schon einen Punkt.
Zeit für Grundsatzentscheidungen
Mit dem Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 wurde bisher letztmalig die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten grundsätzlich geregelt. Vor fünfzehn Jahren und nach dem Beitritt von zwölf neuen Mitgliedern schien der Weg vorgezeichnet: eine Konvergenz zu marktwirtschaftlich geprägten Wirtschaftssystemen mit starken Institutionen der liberalen und aufgeklärten Demokratie. Eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik sollte zum Beispiel, so der Gedanke, auch im Rahmen einer rein intergouvernmentalen Zusammenarbeit und einstimmiger Entscheidungsfindung in einer Gruppe gleichgesinnter Staaten auch effizient und effektiv funktionieren.
Heute stellen wir fest, dass ein angedrohtes Veto eines Staates durch einen Toilettenbesuch und der damit verbundenen Abstimmungsabwesenheit aufgelöst werden kann. Im Einzelfall und der konkreten Situation mag das sinnvoll und für alle Seiten gesichtswahrend gewesen sein. Ob man politische Prozesse dauerhaft so organisieren will, sollte man offen und anhand der Für und Wider diskutieren. Ein Wahlkampf wäre der richtige Zeitpunkt dazu.
HARALD OBERHOFER ist Professor für empirische Wirtschaftsforschung an der WU Wien und Mitbegründer der Plattform Registerforschung. Die Plattform Registerforschung setzt sich für einen besseren Datenzugang der Wissenschaft zu Registerdaten für unabhängige wissenschaftliche Forschung ein.