Drei Optionen in der Neutralitätsdebatte
Die Republik wurde neutral, um die Besatzer, vor allem die sowjetischen, dazu zu bewegen, Österreich in die Unabhängigkeit zu entlassen. Insofern mag die Neutralität identitätsstiftend sein. Mehr noch, Bruno Kreisky machte den Österreicher:innen deutlich, dass sie wohlstandsstiftend war, denn während andere Staaten viel Geld für ihre Verteidigung ausgaben, ließ sich Österreich stillschweigend von der NATO schützen und verwendete das ersparte Geld für die Wirtschaftsentwicklung und das Sozialsystem.
Allerdings sagte Bundeskanzler Julius Raab bereits unmittelbar nach Unterzeichnung des Staatsvertrags zum sowjetischen Emissär, dass Österreich militärisch neutral zwischen den beiden Blöcken sein würde, nicht aber politisch. Österreich trat der UNO bei und verpflichtete sich vollinhaltlich dem Völkerrecht. Die Extreminterpretation der Neutralität, wie wir sie in der Ukraine-Debatte zu hören bekommen – vollständiges Heraushalten aus dem Völkerrecht, keine Abstimmung in internationalen Organisationen –, war niemals der Ursprungsgedanke der Neutralität.
Nach Ende des Kalten Kriegs verschwand die Welt, in der wir uns für neutral erklärt hatten. Dem Ost-West-Konflikt wich die NATO-Erweiterung, und alle unsere früheren Warschauer-Pakt-Nachbarn traten sowohl der EU als auch der NATO bei. Die Neutralität zwischen den Blöcken verlor ihre De-facto-Grundlage. Und mit dem EU-Beitritt wurde sie zumindest im Verhältnis zu den europäischen Partnern auch de jure abgeschafft. Österreich trat der Europäischen Union inklusive der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bei.
Wir können uns aufgrund der irischen Klausel zwar aus militärischer Solidarität mit den EU-Partnerstaaten herauswinden, sind dazu rechtlich aber nicht verpflichtet.
Fakt ist: Die Neutralität in ihrer ursprünglichen Form existiert nicht mehr, und sie schafft keine Sicherheit. Es ist also an der Zeit, sie zu überdenken. Dazu gibt es drei Möglichkeiten.
Option 1: Abschaffen
Die Neutralität hat in der heutigen Welt keine praktische Auswirkung mehr auf Österreichs Sicherheitspolitik und kann ersatzlos gestrichen werden. Diese Handlungsweise macht einen NATO-Beitritt nicht automatisch notwendig, erlaubt uns aber, uns schnell an neue Gegebenheiten anzupassen (z.B. wenn die EU eine Europaarmee als europäische Säule der NATO schafft, der wir unter Beibehaltung der Neutralität nur mit einigen juridischen Spitzfindigkeiten beitreten könnten). Auch beendet die Abschaffung der Neutralität die ständigen Ambiguitäten, wie weit sich Österreich an sicherheitspolitischen EU-Aktionen beteiligen kann, oder inwieweit wir einen Staat wie die Ukraine, die wir unterstützen wollen, dann auch unterstützen können.
Option 2: Beibehalten und situationsbedingt interpretieren
Die Neutralität ist ohnehin mit der EU-Mitgliedschaft in Einklang gebracht worden und muss nur innerhalb der neuen geopolitischen Lage und im Rahmen der Rechtsnormen aus dem Beitrittsvertrag gelebt werden. Damit lösen wir allerdings das Problem der Ambiguität unserer außenpolitischen Verpflichtungen nicht, weil eine Regierung die irische Klausel anwenden würde, eine andere aber nicht. Österreich bliebe in Europa ein längerfristig, über Legislaturperioden hinaus, unberechenbarer und damit nicht vertrauenswürdiger Partner.
Option 3: Neue Interpretation
Wir belassen die Neutralität in der Verfassung, interpretieren sie aber offiziell neu – zum Beispiel im Rahmen einer neuen Österreichischen Sicherheitsstrategie.
Erstens wäre anzuerkennen, was ohnehin schon Sache ist: Wir sind nicht neutral gegenüber dem Völkerrecht. Völkerrecht ist ins österreichische Recht integriert und steht über diesem. Jedes österreichische Gesetz muss völkerrechtskonform sein. Die Neutralität wäre also im Krieg gegen die Ukraine nicht anzuwenden, da hier offensichtlich Völkerrecht gebrochen wurde und die Vereinten Nationen diese Transgression auch festgestellt und verurteilt haben. Österreich hätte im Krieg Russlands gegen die Ukraine alle Möglichkeiten, von Sanktionen über Waffenlieferungen, Training von Soldat:innen, Entminung usw. bis hin zum (unwahrscheinlichen) bewaffneten Eingreifen durch das Bundesheer.
Zweitens das klare Bekenntnis zur Europäischen Sicherheitspolitik, das ohnehin schon durch den Beitritt in die Verfassung aufgenommen wurde und daher österreichisches Recht darstellt. Wir sind nicht neutral gegenüber der Europäischen Union, weil wir beim Beitritt alles EU-Recht, inklusive GASP und GSVP, aktiv ins österreichische Recht übernommen haben. Die irische Klausel, geschrieben für NATO-Mitglieder, die im Ernstfall ihre Truppen in die NATO einbringen müssen und dieser den Vortritt vor einer EU-Armee geben müssen, trifft auf uns nicht mehr zu. Wir bekennen uns zu europäischer Verteidigungssolidarität ohne Abzweigungen und Ausreden.
Unsere Neutralität bezieht sich in dieser Welt ohne Ost-West-Konflikt also nur noch auf Konflikte, in die wir weder durch EU-Recht noch durch Völkerrecht involviert sind. Wir bleiben neutral in Streitfragen ohne EU-Bezug, die durch Völkerrecht nicht eindeutig determiniert sind.
Neutral in Theorie und Praxis
Wenn also z.B. Türkei und Ägypten über den Verlauf der Seegrenzen streiten, bleiben wir neutral. Solange es keinen Entscheid des Internationalen Seegerichts oder der UNO gibt, nehmen wir keine Position ein. Bei wirklich strittigen Fragen könnten wir uns sogar bei Abstimmungen der Vereinten Nationen enthalten. Jedenfalls aber greifen wir nicht aktiv in die Streitigkeiten ein, bis sie völkerrechtlich von den dafür vorgesehenen Institutionen entschieden sind.
Sobald es eine internationale, rechtsgültige Entscheidung gibt, ist diese für uns bindend. Das heißt nicht, dass wir automatisch in den Krieg ziehen müssen, um sie zu implementieren, ein solches Vorgehen wäre jedoch mit dieser Form von Neutralität vereinbar. Internationale Sanktionen sind bindend mitzutragen, weil sie internationales Recht darstellen – und Österreich schon immer UNO-Resolutionen mitgetragen hat und das auch im österreichischen Recht der Zweiten Republik verankert ist.
Interessanterweise tut hier Österreich genau das Gegenteil: Im Streit zwischen Israel und der Palestinian Authority bezieht Österreich regelmäßig in hochstrittigen Fragen aktiv Stellung, z.B. durch Stellungnahmen vor dem Internationalen Gerichtshof. Genau da würde die Neutralität verlangen, sich bis zu einer Entscheidung durch internationale Gremien herauszuhalten, anstatt Partei zu ergreifen.
In einem Seegrenzenstreit der Türkei mit dem EU-Mitglied Griechenland wäre die Sache komplexer: Internationale Streitigkeiten sind vor internationalen Gerichtshöfen zu klären. Bis zu einer derartigen Klärung steht Österreich den Streitparteien auch da neutral gegenüber, Völkerrecht wird nicht durch europäische Solidarität außer Kraft gesetzt. Ein internationales Urteil ist umzusetzen – auch wenn es gegen ein EU-Mitglied ausfällt. Sollte der europäische Partnerstaat aber rechtswidrig angegriffen werden, ist ihm Österreich durch die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik die volle Solidarität schuldig.
Fest steht, dass die Neutralität uns so, wie sie von einem großen Teil der Bevölkerung verstanden wird – schwammig und je nach Weltanschauung biegsam – heute nicht mehr dient. Sicherheitspolitik kann sich nicht an emotionalen Erinnerungen und identitätsstiftenden Mythen orientieren. Die Grundlage für Österreichs nationale Sicherheit und die Sicherheit der Menschen, die hier leben, ist die geopolitische Lage und wie wir ihr am besten begegnen können. Eine ergebnisoffene Debatte der Österreichischen Sicherheitsstrategie ist dafür die notwendige Grundlage, die Ausgestaltung der Neutralität ihre ebenso notwendige Folge.