Nur Energiesicherheit bringt Sicherheit
Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat unzählige Menschen das Leben gekostet, horrende Zerstörung gebracht und über 13 Millionen ukrainische Staatsbürger:innen zur Flucht gezwungen. Zugleich hat dieser Krieg eines schmerzhaft vor Augen geführt: die jahrzehntelang gehegte Naivität rund um Energiesicherheit und Sicherheitspolitik in Europa.
Anscheinend hat vor der „Zeitenwende“ kaum jemand damit gerechnet, dass Putin die russischen Gasexporte bzw. die Nichtlieferung von Gas trotz gültiger Verträge als „Waffe“ einsetzen würde, um Europa mit dieser künstlich geschaffenen Knappheit zu erpressen. Genau das versucht er jetzt in seinem imperialistischen Krieg, und das hätte Europa in eine beispiellose Energiekrise stürzen können – wenn man nicht gleich auf die Strategie gesetzt hätte, die Energiegewinnung zu diversifizieren.
Das heißt, mit dem unterbundenen Angebot auf der einen Seite wurde auf der anderen Seite die Nachfrage gedrosselt. Schließlich verhängte die EU umgehend weitreichende Sanktionen gegen den Kriegstreiber Russland, um keinesfalls derartige Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen mitzufinanzieren. Die Gaspreise 2022 stiegen in der Folge kurzzeitig auf über 200 Euro pro MWh an, was einer mehr als zehnfachen Preissteigerung im Vergleich zu 2019 entspricht. Der darauffolgende Inflationsschock war der größte seit den beiden Ölpreisschocks der 1970er Jahre. Besonders jene Länder wurden in Mitleidenschaft gezogen, die vom russischen Gas abhängig sind: darunter ost- und südosteuropäische Staaten sowie die Westbalkan-Region. Und eben Österreich, wie aktuelle Daten zeigen.
Energiearchitektur: Die Achillesferse der Europäischen Union
Das Gebot der Stunde sind daher Änderungen der europäischen Energiearchitektur und eine Diversifizierung von Energielieferanten bzw. Energiegewinnung mit Fokus auf erneuerbare Energien auf EU-Ebene. Auch die Europäische Kommission hat 300 Milliarden Euro in den Ausbau erneuerbarer Energien investiert, allerdings hat dieser noch nicht die notwendige Geschwindigkeit erreicht, um rasch und nachhaltig vom russischen Gas und Öl unabhängig zu werden. So ist die EU – trotz Konsens zu erneuerbaren Energien als gemeinsame Lösungsstrategie – weit davon entfernt, den aktuellen Energiebedarf in naher Zukunft über Erneuerbare zu decken.
Fossile Brennstoffe sind für die EU nach wie vor unerlässlich, da Industrie, Energieerzeugung, Gewerbe und Privathaushalte größtenteils auf Gas ausgerichtet sind. Um vom russischen Gas wegzukommen, haben EU-Länder als Zwischenlösung Verträge für die Einfuhr von vergleichsweise teurerem Flüssigerdgas (Liquified Natural Gas, kurz LNG) unterzeichnet. Abgefangen wurde der finanzielle Verlust allerdings durch den international wieder gefallenen Gaspreis in den – außergewöhnlich milden – Wintermonaten 2022/2023 und weiters durch die vollen Gasspeicher sowie LNG-Importe aus Norwegen. Unmissverständliches Ziel der Europäischen Kommission ist es, die vollständige Unabhängigkeit von russischem Gas noch weit vor 2030 zu erreichen.
Europaweiter Schulterschluss unerlässlich
Langfristig führt beim Thema Klimaneutralität kein Weg an regionaler Zusammenarbeit vorbei. Daher wurden auch die Westbalkan-Staaten in die EU-Energieplattform aufgenommen oder zumindest dazu eingeladen, um „einen Solidaritätsmechanismus für gemeinsame Gas- und Wasserstoffkäufe“ aufzubauen. Schlüsselelemente für die zukünftige Energiesicherheit sind schlicht LNG und Wasserstoff – und eben massive Investitionen in Erneuerbare Energien.
Alle drei Energiequellen erfordern insbesondere bei ihrer Einführung massive finanzielle Investitionen, da ihre Netzanforderungen von den bisher verwendeten völlig abweichen. Außerdem gibt es in Europa noch immer eine gewisse „Not in my backyard“-Haltung gegenüber Windparks in der Nähe von besiedelten Gebieten. Die Herausforderung bei der Umstellung auf erneuerbare Energien liegt daher auch in intensiver Informationsarbeit und Bildung sowie in Sensibilisierungsmaßnahmen und Partizipationsprozessen.
Unabhängigkeit von russischem Gas bedeutet nämlich langfristig eine Verringerung des Einflusses des Systems Putin auf Europa. Das bringt eine Stärkung von Menschenrechten, Meinungsfreiheit und liberaler Demokratie in Europa mit sich. Deshalb sind eine verstärkte Diversifizierung und Energieerzeugung innerhalb Europas genauso wie eine Verringerung der Gasnachfrage und der Ausbau von Erneuerbaren so wichtig. Zwar war es schon vor dem aktuellen Krieg Teil der sicherheitspolitischen EU-Strategie, autark zu werden – doch jetzt geht es um die rasche Umsetzung. Und zwar eine Art der Umsetzung, die demokratische Prinzipien und liberale Werte nicht für niedrigere Energiepreise und vermeintliche Energiesicherheit aufs Spiel setzt.
Empfehlungen für eine Sicherheitspolitik als Unabhängigkeitspolitik in Europa
Wer jetzt über Sicherheitspolitik spricht, muss auch über nachhaltige Energiepolitik sprechen. Diese trägt zur europäischen Unabhängigkeitspolitik gegenüber unerwünschtem Einfluss von außen bei, insbesondere vom System Putin. Mit seinen imperialistischen Bestrebungen hat das System Putin vor allem eines forciert: einen verstärkten europäischen Zusammenschluss in Richtung Energiewende, verbunden mit hohen Investitionen in erneuerbare Energien. Nachhaltigkeit ist das Stichwort, bezogen auf Energie, Sicherheit und Unabhängigkeit, genauso wie auf das zukünftige Verhältnis Europas zu Russland. Auch wenn noch kein Ende des Ukraine-Kriegs absehbar ist, sind Pläne für die Zeit nach dem Krieg zu entwickeln, für ein neues außenpolitisches Verhältnis zu Russland, mit oder ohne Putin. In Anlehnung an Stefan Meister (2022) von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sind folgende Empfehlungen für zukünftige EU-Strategien in Betracht zu ziehen:
1. EU-Erweiterung und Nachbarschaftspolitik wiederentdecken
Der über Jahre stockende EU-Integrationsprozess sollte wieder angekurbelt und eine verstärkt kooperative Nachbarschaftspolitik aktiv betrieben werden. Das bedeutet eine stärkere Konzentration auf Osteuropa, den Westbalkan, den Südkaukasus und die Schwarzmeerregion, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern und die Öl- und Gasdiversifizierung gemeinsam zu erreichen.
2. Energiesicherheit in ganz Europa ernst nehmen
Energieexporte sind für Russland ein wichtiger Wirtschaftsfaktor – Europa sollte daher so schnell wie möglich kein Gas und Öl mehr aus Russland importieren. Manche Länder, etwa Deutschland, zeigen es bereits vor. Um für Stabilität in ganz Europa zu sorgen, ist die EU aufgefordert, die Energieversorgungssicherheit nicht nur innerhalb der Union, sondern auch in der unmittelbaren Nachbarschaft sowie den (potenziellen) Beitrittskandidaten zu fördern. Dadurch kann Russlands ideologisch-intriganter Einfluss auf Wirtschaft und Politik der betreffenden Länder unterbunden werden – Stichwort Korruption.
3. Russische Zivilgesellschaft vor Ort und international unterstützen
Zwischen dem Putin-Regime und der unterdrückten oppositionellen Zivilgesellschaft muss klar unterschieden werden. Dabei geht es insbesondere um die Unterstützung von internationalen Plattformen zwischen der russischen Diaspora im Ausland und der Opposition in Russland, um einen geschützten, hybriden Raum für sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Austausch zu bieten – und das „andere Russland“ vor dem Hintergrund gemeinsamer liberal-demokratischer Werte zu fördern. Diese zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sollten in die Entwicklung eines demokratischen Post-Putin-Russlands einbezogen werden.
4. Einheitliches europäisches Visa-Regime etablieren
Da es kein harmonisiertes europäisches Visa-Regime für Flüchtlinge aus Russland gibt, sondern Entscheidungen auf nationaler Ebene getroffen werden, sollte eine Einigung auf europäischer Ebene gefunden werden. Bisher wird das durch die Uneinigkeit darüber erschwert, ob Geflüchtete oder eben „nur“ emigrierte russische Staatsbürger:innen eine Gefahr für Europa darstellen oder nicht. Mit einem europaweit standardisierten Kontrollsystem sollten die Motivation und der Hintergrund aller Asylbewerber:innen leicht zu klären sein, damit Europa im Zuge möglicher zukünftiger Repressionen durch das russische Regime angemessen reagieren kann.
5. Totale internationale Isolation Russlands vermeiden
Die derzeitigen Sanktionen gegen Russland – oder konkret gegen das System Putin – sind nicht dazu gedacht, langfristig beibehalten zu werden, da die langfristige finanzielle und technologische Isolation Russlands vom europäischen Markt zu einem Teufelskreis der Isolation führen würde. Das zeigt auch der Fall Iran. Internationale Kontakte zur liberal-demokratischen Opposition in Russland müssen ständig gepflegt werden, um proeuropäische Kräfte vor Ort zu stärken. Dies könnte sich als wichtiger strategischer Schritt erweisen, da niemand vorhersehen kann, ob und wann das Putin-Regime gestürzt werden kann und ob sich die liberal-demokratischen Kräfte durchsetzen werden.
Bis dahin markiert Energiesicherheit die „Soft Power” von dringend notwendigen Sicherheitsstrategien, um den Erpressungen und Drohungen vonseiten des Kremls nicht zu erliegen. Diese Unabhängigkeit ist die existenzielle Grundlage für die liberale Demokratie in Europa.
SILVIA NADJIVAN ist Senior Researcherin im NEOS Lab. Die promovierte Politologin arbeitet zu den Bereichen Demokratie, Europa, Sicherheit und modernes Österreich. Zuvor forschte, publizierte und lehrte sie u.a. zu Kriegen und Transformationsprozessen in Südosteuropa sowie Migration und Intersektionalität in Europa u.a. an der Universität Wien und am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM).