Obdachlose zu filmen, ist keine Sozialpolitik
Unsicherheitszonen, Kriminalitätshotspots und No-go-Areas in Wien, so weit das Auge reicht – diesen Eindruck könnte erhalten, wer Videobeiträge und Wortmeldungen von Wiens ÖVP-Chef Karl Mahrer verfolgt. Der frühere Landespolizeikommandant ist jetzt Chef der Stadt-Schwarzen – und dürfte seine Ausbildung als Polizist vergessen haben.
Denn am 13. Juli, als er mit einem Kamerateam der Wiener Volkspartei über die Mariahilfer Straße patrouillierte, fiel ihm und seinem Team ein Mann auf, der auf einer Sitzbank lag und schlief. Mahrer betonte in einer Stellungnahme, dass er kontrolliert habe, ob der Mann atmet. Offenbar meinte er, dass es einen gesundheitlichen Notfall gibt. Allerdings sollte er als ehemaliger Polizist wissen, dass Erste Hilfe in so einem Fall etwas mehr vorsieht als nur die Atemkontrolle: Ansprechen, notfalls einen kleinen Schmerzreiz setzen, und wenn die Person immer noch nicht reagiert, in die stabile Seitenlage bringen. Dass der ehemalige höchste Polizist Wiens nichts davon macht, ist zumindest bemerkenswert. Genauso wie der Umstand, dass er meinte, dann die Polizei rufen zu müssen, die „Profis“ in solch einem Moment – während er von seinem Team gefilmt wurde. Wohl für ein nächstes Kampagnen-Video.
Der Verdacht ist also gegeben, dass ein schlafender Mann – die ÖVP insinuiert, dass er obdachlos sei – für einen PR-Stunt der ÖVP Wien missbraucht wurde. Der Fakt, dass Karl Mahrer von seinem Team gefilmt wird, während er die Polizei ruft, anstatt Erste Hilfe zu leisten, passt in die aktuelle Kommunikationsstrategie der Stadt-Schwarzen, in der Sozialpolitik mit populistischen Ansagen Brandstifter zu spielen, anstatt Lösungen zu bieten. Ob Brunnenmarkt in Ottakring, Josefstädter Straße an der U6-Station, Viktor-Adler-Markt in Favoriten oder Gumpendorfer Straße bei einer Suchthilfe-Einrichtung: Der ehemalige Spitzenpolizist Mahrer produziert und postet seit wenigen Monaten Videos von den angeblich gefährlichsten Hotspots der Bundeshauptstadt. Und sorgt damit für Empörung.
Karl Mahrer und das Dogwhistling
Das Kalkül dahinter: die in Wien kaum einflussreiche ÖVP und ein Parteichef, der bisher wenig Profil als nicht amtsführender Stadtrat aufbauen konnte, sollen mit kantigen Aufreger-Videos für Aufregung und damit Bekanntheit sorgen. Ernsthaft über die aufgezeigten Probleme zu diskutieren, ist nicht das Ziel – vielmehr sollen spezifische Orte einer Großstadt, an denen Armut, Obdachlosigkeit, Migration oder auch einfach nur Multikulturalität aufeinanderprallen, als Gefahrenzonen geframed werden.
Ein Beispiel ist auch der Polizeianruf auf der Mariahilferstraße. Dieses Konzept des Dogwhistling wird gerne von populistischen Parteien verwendet, um Radikaleres anzudeuten, als man offen sagen will. Da passt das Framing, dass nur die Polizei helfen kann, gut hinein – wird doch damit ein Problem, ein Risiko insinuiert.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
Problematisierung als Ersatz für Sozialpolitik
Das soll nicht bedeuten, dass es in einer Großstadt wie Wien nicht soziale Brennpunkte oder Probleme gibt. Doch die Art, in der die ÖVP Wien diese Probleme benennt und framed, ist nicht dazu gedacht, konstruktiv zu sein. Sozialpolitik ist langsames Arbeiten mit Betroffenen und Anrainer:innen, um Probleme und das Aufeinanderprallen von verschiedenen Interessen zu deeskalieren und einen Kompromiss zu finden, der am Ende für alle machbar und befriedigend ist.
Als Oppositionspartei kann auch die ÖVP Vorschläge dazu beisteuern, viele der „Hotspots“, die sie problematisiert, fallen zumindest teilweise auch in die Verantwortung der Bezirke, in vielen davon hat die ÖVP auch mehr Mitsprachemöglichkeiten oder ist sogar in der Exekutive. Doch viel Interesse scheint nicht gegeben, die leichte Emotionalisierung durch Aufreger-Videos scheint aktuell die einzige Strategie der angeblich bürgerlichen Partei zu sein.
Doch was eigentlich getan werden, wenn man in der aktuellen Hitze eine nicht ansprechbare Person vorfindet? Die Wiener Berufsrettung rät, Betroffene zunächst direkt selbst anzusprechen, wenn man das Gefühl hat, dass der Zustand abgeklärt werden müsse. Sollte der:die Betroffene nicht reagieren und sich der Zustand bedrohlich verschlechtern, sei der Rettungs-Notruf 144 zu verständigen. Die Polizei, auch wenn die ÖVP meint, das seien „die Profis“, kann in so einem Moment auch nur die Rettung rufen.