Österreich und die EU: Bremsen statt gestalten
Eine einseitige Blockade des Schengen-Beitritts Rumäniens und Bulgariens, kein Wort der Kritik am autokratischen Ungarn, breite Ablehnung eines gemeinsamen Asylsystems zum eigenen Schaden, Skepsis bei der Weiterentwicklung der Union: 29 Jahre nach der Volksabstimmung für einen Beitritt zur Europäischen Union fällt Österreich vor allem mit einem angespannten Verhältnis zur EU auf. Wie kam es so weit, und was muss sich ändern? Ein Plädoyer.
Geografisch liegt Österreich im Herzen der EU und Europas, ja, es wird ja sogar in der Bundeshymne besungen: liegst dem Erdkreis du inmitten. Einem starken Herzen gleich.
Doch dieses Herz sorgt eher für Sorge, als dass es Antrieb für positive Entwicklungen ist. Diese Materie hat am Beispiel von aktuellen Taten der Bundesregierung und Umfrageergebnissen aus dem Eurobarometer der EU herausgearbeitet, dass Österreich als Bremser auffällt und die Bevölkerung überdurchschnittlich skeptisch gegenüber Reformen, Vertiefungen oder Änderungen des europäischen Status quo ist. Man könnte meinen, dass das eben immer so war und dass die Regierungen auf EU-Ebene nur für das eintreten, was die Bevölkerung eben will.
Doch so einfach ist es nicht – in den fast drei Jahrzehnten EU-Mitgliedschaft wurde durch populistische Politik und kräftige Hilfe des Boulevards eine Skepsis aufgebaut, die den harten Fakten nicht standhält, sich aber unbekümmert davon weiter stabilisiert.
Janusköpfige Europapolitik
Nach der anfänglichen Euphorie in den späten 1990ern endete der Honeymoon zwischen Wien und Brüssel mit dem Amtsantritt der ersten schwarz-blauen Regierung unter Wolfgang Schüssel im Jahr 2000. Die Sanktionen, die den Boulevard empörten, waren keine offizielle Reaktion der EU, sondern der Mitgliedstaaten, doch in der nationalen Aufgeregtheit der ÖVP, FPÖ und der Dichands waren solche Details egal: „Die EU“ war gegen uns.
Gleichzeitig wurden auf Ebene der EU-Ministerräte und EU-Gipfel Verordnungen auch mit den Stimmen der österreichischen Minister:innen und Bundeskanzler beschlossen – zu Hause übte man sich aber in verbalen Ritten gegen „Brüssel“. Ein janusköpfiges Verhältnis der nationalen Regierungen entstand und hielt sich bis heute: In Brüssel wurde die meiste Zeit leise beschlossen, in Wien laut gegen den „Wasserkopf“ EU geschimpft. Egal ob Schüssel, Faymann, Kurz oder Nehammer, wirkliche Ausnahmen gibt es wenige.
Der Boulevard nahm das Narrativ gerne auf – zu verlockend waren diese simplen Erklärungen und die Inserate der Regierungen, zu viel Platz hätte eine ausgewogene Berichterstattung gebraucht. Das gleiche Prinzip, das die EU-Verdrossenheit in Großbritannien jenseits von Fakten steigen ließ, zeigte und zeigt auch in Österreich Wirkung.
Pragmatismus und Visionen
Stefan Schett schreibt in seinem Kommentar über das abgesagte Ende der Geschichte, dass wir uns nicht darauf verlassen dürfen, dass sich liberale Grundsätze automatisch durchsetzen. Das sollten wir in Österreich auch im Hinblick auf die EU berücksichtigen. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind nicht das automatische Endergebnis des europäischen Experiments. In drei Jahrzehnten hat opportunistischer Populismus der Regierungen, gepaart mit einem ungesund nahen Verhältnis zum Boulevard, die Debatte über die Weiterentwicklung der EU in Österreich nachhaltig vergiftet.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sollte ein Weckruf sein, wie fragil demokratische Stabilität sein kann, wenn sie nicht verteidigt wird. Die EU ist ein Experiment, ein Projekt mit Problemen und Baustellen. Doch sich der Debatte über ihre Zukunft zu entziehen, macht nichts besser. Wir brauchen einen pragmatischen, faktenbasierten Blick auf die Herausforderungen, wir brauchen Visionen, wie wir die Union weiterentwickeln können. Das janusköpfige System Brüssel-Wien muss aufgebrochen werden. Es würde uns allen gut tun.