Warum in Österreich nichts mehr geht – und wie wir das ändern
Österreich ist gelähmt: In den wesentlichsten Politikbereichen geht nichts weiter, und die politische Debatte liefert hauptsächlich Scheinlösungen. Eine Suche nach den Ursachen – und ein Ausblick, was wir dagegen tun können.
Im Superwahljahr 2024 geht es um viel – nämlich um unzählige politische Bereiche, in denen wir vor extrem dringenden Problemen stehen. Obwohl wir überdurchschnittlich viel Geld einzahlen, erzielen das Bildungs- und Gesundheitssystem nur mittelmäßige bis schlechte Ergebnisse, das Wohnen und das Leben allgemein werden immer schwieriger leistbar, wir verpassen unsere Klimaziele krachend und auch unzählige Chancen, die andere Staaten nutzen.
Die Frage ist: Warum geht in Österreich nichts mehr weiter? Es ist leicht, auf „die Politik“ zu schimpfen. Aber wollen wir wirklich allen, die sich der Lösung dieser Probleme verschrieben haben, Faulheit, Inkompetenz oder schlicht Bösartigkeit unterstellen? Die eigentlichen Ursachen liegen viel tiefer. Und um zu verstehen, weshalb gerade ein reiches Land wie unseres politisch nichts mehr weiterzukriegen scheint, müssen wir bis zu den Grundstrukturen des Staates vordringen.
1. Und täglich grüßt der Kompetenzkonflikt
Ein wesentliches Problem des österreichischen politischen Systems: Für ein kleines Land haben wir einen sehr stark ausgeprägten Föderalismus. In vielen Fällen sorgt dieser dafür, dass ein Thema zehn Zuständigkeiten hat. Eine unnötige Kompetenzverschiebung, wenn man auf Lösungen aus ist – aber eine praktische Situation, wenn man nur Verantwortung abschieben will.
Man sieht das vor allem, wenn Krise angesagt ist, also in den letzten Jahren nicht allzu selten. Wenn sich die Bundesregierung nicht einigen kann, wird ein Thema gerne den Ländern übergeben – auch damit die Regierungsparteien dem Druck aus den eigenen Landesparteien nachgeben können. Statt a) einen großen Wurf oder b) einen anständigen Kompromiss zu finden, gibt es eben nicht eine Lösung, sondern neun. Mit dem netten Vorteil, dass der Bund dann den nicht genehmen Ländern – das sind oft die, die andere Mehrheiten haben als im Bund – etwas ausrichten kann, statt sich selbst um die Probleme kümmern zu müssen.
So könnte die Bundesregierung längst eine Bodenschutzstrategie oder ein Klimaschutzgesetz vorlegen. Stattdessen richten vor allem die Grünen gerne diversen Bundesländern aus, dass sie „ihre Hausaufgaben nicht machen“. Das ist auch nicht zwingend falsch, immerhin steht im Westen Österreichs nach wie vor kein einziges Windrad, obwohl es in allen betroffenen Bundesländern schon grüne Regierungsbeteiligungen gab. Aber hier wird die Schuld weitergeschoben.
2. Das Ausreden auf „Brüssel“
Was nach Kompetenzkonflikt klingt, aber keiner ist, geht auch nach „oben“: nämlich auf EU-Ebene. Wahrscheinlich wird nirgendwo in Europa so viel über die Union geschimpft wie in Österreich – und das, obwohl niemand leugnen kann, dass uns der Beitritt immense Vorteile gebracht hat.
Trotzdem lebt die österreichische Politik vom „Reibebaum Brüssel“. Einerseits weil gern ein Konflikt gesucht wird, wo keiner ist. Erinnert sich noch jemand an die „geschlossene Balkanroute“? Das Ziel, weniger Geflüchtete durch den Balkan kommen zu lassen, wurde hierzulande als österreichischer Sieg gegen die EU-Eliten gefeiert, war aber im Wesentlichen unumstritten. Oder man nehme die Bargeld-Scheindebatte von 2023: Wenn ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer insinuiert, dass auf EU-Ebene das Bargeldverbot diskutiert wird, ist das nicht nur falsch, sondern er mischt sich auch außerhalb seiner Kompetenz ein. Denn eigentlich wird das Bargeld durch die Europäische Union festgelegt und gesichert. Wo es keine Probleme gibt, erfindet Österreich eben eines.
Und umgekehrt werden Ergebnisse der gemeinsam abgestimmten EU-Politik gerne als österreichische Siege verkauft. Als Ex-Bundeskanzler Kurz etwa in der Corona-Pandemie prahlte, große Mengen an Impfstoff verhandelt zu haben, ließ er das klingen, als habe er mehr für Österreich herausgeholt – dabei gab es auch für uns nicht mehr als andere, sondern die übliche Menge. Ein Verhalten, das sich durch mehrere Themen zieht: Ob Klima- oder Grenzschutz – wenn die EU liefert, verkauft die österreichische Bundesregierung das als großen Triumph Österreichs auf der Ebene der Weltpolitik.
Das Ziel dieses unseriösen Verhaltens ist klar: In Österreich ist Außenpolitik ein Instrument der Innenpolitik. Und solange sich die Bürgerinnen und Bürger zu wenig für EU-Themen interessieren – obwohl im Europäischen Parlament ein Großteil der Gesetze beschlossen wird, die unser Leben prägen – kann man diese billige Populismus-Karte spielen. Das führt nur dazu, dass genau die Ebene, die wirklich noch Ergebnisse liefern kann, ein unverdient schlechtes Image hat: Immerhin ist Österreich als einer der größten Profiteure der EU-Mitgliedschaft gleichzeitig konstant unter den EU-skeptischsten Staaten der Union.
3. Keine Mehrheit für Strukturreformen
Ja, das Wort „Strukturreform“ hat ungefähr den Sexappeal von Hits wie „Gebietskörperschaft“ oder „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. Aber dahinter verbirgt sich das, was Österreich in vielen Bereichen brauchen würde – keine unambitionierte Symptombekämpfung, sondern ernsthafte große Würfe, die das System an sich auf den Kopf stellen.
Nehmen wir den Bildungsbereich: Wo sich ÖVP und SPÖ jahrzehntelang damit begnügt haben, einen Kulturkampf um Gymnasium und Gesamtschule zu führen, bräuchte es eigentlich ein riesiges Umdenken. 50-Minuten-Einheiten, die nach Fächern getrennt sind, der traditionelle Fächerkanon, Auswendiglernen statt Kreativität – all das ist schon lange nicht zeitgemäß, wie Schülerinnen und Schüler genauso bestätigen können wie ihre Eltern. Und trotzdem tut sich bildungspolitisch: nichts. Denn für genau diese großen Reformen gibt es keine Mehrheit, im Gegenteil: Mit der Wiedereinführung von Leistungsgruppen, die Kinder sehr früh sozial selektieren, plant die Volkspartei sogar Rückschritte.
Genau das gleiche Drama gibt es in vielen anderen Bereichen. Im Gesundheitssystem reden nicht nur die Länder, sondern gefühlt 100.000 andere Player mit. Wenn ÖGK, Ärztekammer, Bund und Länder gegeneinander arbeiten, führt das zu einem permanenten Machtkampf auf Kosten derer, die eigentlich Hilfe brauchen. Und jeder davon weiß, dass dieses System nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten ist – aber man muss mitspielen, weil es um viel Geld geht. Deshalb wartet man Wochen bis Monate auf dringende Termine, deshalb werden Menschen von A nach B und wieder zurück geschickt: weil niemand diesen Finanzierungs-Fuckup wirklich angehen kann.
Denn dafür bräuchte es Mehrheiten, die das möglich machen. Aber das sieht in der momentanen Besetzung unrealistischer denn je aus: Karl Nehammer redet lieber darüber, was „normal“ ist, statt das Gesundheitssystem zu reformieren, Andreas Babler will Vermögenssteuern statt eine Bildungsreform, und Herbert Kickl fordert eine „Festung Österreich“, die alle Bereiche des politischen Lebens nur noch verschlimmern würde. Und selbst wenn sich die Mehrheiten im Bund ändern – in vielen Fällen braucht man sie auch in den Ländern.
4. Wir werfen Geld auf das Problem
All die bisher genannten Herausforderungen führen also zum Reformstau in den ganz großen Bereichen. Und das wäre genug der intellektuellen Erklärung, man kann sich damit schon sehr smart fühlen. Aber echte Probleme gehen nicht einfach weg – sie brauchen auch dann eine Lösung, wenn der Föderalismus und unsere politische Kultur keine zulassen. Und da bleibt am Ende nur noch eines: Geld ausgeben.
Wir alle kennen diese Beispiele: Wenn die staatliche Infrastruktur nicht funktioniert, schießt die Gemeinde etwas zu. Meist an jene, die es bis jetzt schon gemacht haben. Gemeinden zahlen Busse, weil das öffentliche Verkehrsnetz nicht ausreicht, nutzen Geflüchtete als Schülerlotsen, weil es bei der Verkehrssicherheit hakt, und sammeln selbst für die Schule im Ort, weil das Land die Sanierung nicht zahlt. Das Paradoxe: All diese „Geld auf das Problem schmeißen“ Lösungen sind gute Schritte in die richtige Richtung – aber sie müssten nicht sein, wenn wir das Problem von Grund auf bekämpfen würden. So bekommen neue Ärztinnen und Ärzte am Land etwa einen attraktiven Zuschuss, der von Steuergeld finanziert wird. Eine realistischere Lösung, als dafür zu sorgen, dass Kassenplätze attraktiver werden. Aber keine bessere.
Diese Vollkasko-Mentalität, die sich längst in alle Bereiche des politischen Lebens eingeschlichen hat, zeigt sich nirgends besser als in der Forderung der Sozialpartner für mehr Tätigkeit in der Baubranche: Bis zu 100.000 Euro soll der Staat für Bauprojekte demnach zuschießen. Das wäre eine Umverteilung von unten nach oben – Steuergeld von denen, die sich ohnehin schon kein Eigentum leisten können, soll dafür verwendet werden, dass sich andere ein Haus kaufen können.
Stattdessen sollte der Staat die Ursachen bekämpfen: Vor allem im Bereich der Raumordnung könnte man viel tun, um Nachverdichtung zu ermöglichen und Ortskerne wiederzubeleben. Auch die Grund- und Grunderwerbssteuer sind ein Grund, dass der Immobilienerwerb für viele unleistbar geworden sind. Aber wer über die Raumordnung reden will, legt sich mit den Dorfkaisern an (es sind sehr selten Kaiserinnen), die den klassischen Billa mit Riesenparkplatz am Ortsrand verschulden, den man nur mit dem Auto erreichen kann. Und wenn keiner mehr seine eigenen Prestigeprojekte planen und freihändig Grundstücke vergeben darf – wo kommen wir denn da hin? Am Ende wäre auch das schon eine Strukturreform. Und das darf einfach nicht sein.
5. Wir haben nicht die Debatte, die wir bräuchten
All diese Probleme sind real – und beim Mitlesen merkt man wahrscheinlich schon, all das schon öfter gehört zu haben. Aber wie sollen wir jemals zu einer Lösung kommen, wenn diese Blockaden nicht adressiert werden?
Statt jahrzehntelang Symbolpolitik zu betreiben, wer eine noch härtere Linie gegenüber Zugewanderten vertritt, sollten wir ehrliche Lösungen vorstellen: Qualifizierte Zuwanderung ja, nachvollziehbare Kriterien bei Asyl, schnelle Prozesse und Abschiebung für Straffällige. Das wäre nicht nur eine Politik, die der FPÖ völlig den Wind aus den Segeln nehmen würde – sie würde auch eine der stärksten kulturellen Debatten beenden, die uns von Bildung, Gesundheit, Klimaschutz und anderen wichtigen Zukunftsbereichen ablenken. Dafür bräuchte man aber einen politischen Diskurs, der solche Vorschläge belohnt. Vorgelegt werden sie immerhin.
Und dafür braucht es nicht zuletzt auch die mediale Berichterstattung. Diese konzentriert sich, der Medienkrise geschuldet, immer mehr auf „Politik-Politik“: Wer kann mit wem, wer will mit wem, wer gegen wen. Was man im US-amerikanischen „Horserace Journalism“ nennt, hält auch immer mehr bei uns Einzug – die Themen bleiben auf der Strecke. Wenn Andreas Babler alleine mit der Forderung einer Vermögenssteuer in den Wahlkampf geht, reicht das inhaltlich aus, solange Inhalte nicht nachgefragt werden, geschweige denn hinterfragt. Und wenn am Ende nur Persönlichkeit, Taktik und Symbolpolitik im Forderung stehen, wird es keine konstruktive Mehrheit geben. Denn Parteien haben gar keinen Anreiz, konstruktiv zu sein.
Fazit
Das soll nicht heißen, dass „die Medien“ alleine schuld an dieser Debatte sind. Erstens kann man nie alle über einen Kamm scheren, und es gibt auch einige Journalistinnen und Journalisten, die sich für Inhalte interessieren. Aber letztendlich sind auch Politikerinnen und Politiker Gefangene der Medienlogik – und wer merkt, dass man mit Scheinlösungen und Brüssel-Bashing durchkommt, wird auch weiterhin darauf setzen. Hier wäre ein verantwortungsvoller Journalismus gefragt, der nicht nur auf Klicks aus ist. Aber das ist eine andere Geschichte.
Letztendlich liegt es auch an uns allen, für große Probleme große Würfe einzufordern. Aber dafür ist wichtig, dass wir uns mit den politischen Themen auseinandersetzen. In einem Land, das seit Jahrzehnten in Populismus und Parteipolitik verhaftet ist, wirkt das fast wie ein revolutionärer Akt: Wer sich mit der Gesundheitspolitik im Detail auskennt, wird im besten Fall als Nerd und im schlimmsten Fall als Querulant betrachtet. Genau das wäre aber wichtig – denn wie die zahlreichen gescheiterten Heilsbringer der österreichischen Politik gezeigt haben, wird das niemand einfach für uns erledigen.
Am Ende hat jedes Land die politische Kultur, die es verdient. Und Ausreden nach oben und unten funktionieren nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie auch glauben. Ein informierter politischer Diskurs, der Inhalte belohnt und Scheinlösungen bestraft, ist der erste Schritt raus aus der Blockade, die Österreich lähmt. Erst dadurch werden wir über die Sinnhaftigkeit des Föderalismus reden können, erst dann wird es nicht mehr ausreichen, sich auf Brüssel auszureden, erst dann wird es Mehrheiten für die Reformen geben, die unser Land bräuchte. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber heute wäre ein guter Tag, damit anzufangen.