Wie liberal ist … die ÖVP?
Man kann nicht über Politik in Österreich reden, ohne über die ÖVP zu reden. Seit 1987 regiert die Österreichische Volkspartei in wechselnden Konstellationen das Land, sie sitzt in sieben von neun Landesregierungen, einige Bundesländer hatten noch nie eine Regierung ohne sie. Grund genug, einen kritischen Blick auf ihre Programmatik zu werfen – darüber, was eine Partei, die seit mehr als einer Generation am Trog der Macht sitzt, eigentlich will.
Einblicke über die politische Verortung der ÖVP findet man in ihrem Grundsatzprogramm aus dem Jahr 2015. Grundsatzprogramme sind deswegen eine gute Quelle, weil sie über Wahlkämpfe hinausgehen: Während Wahlprogramme die konkreten Forderungen für die nächste Legislaturperiode sind, geben Grundsatzdokumente auch Aufschluss über die Werte einer Partei, den zeitlosen Kern quasi. In der Einführung des Dokuments wird explizit festgehalten, dass die Funktion dieses Dokuments ist, einerseits den Wählerinnen und Wählern Orientierung und andererseits Funktionären eine Handlungsanleitung zu geben.
Und in diesem Grundsatzprogramm findet man gleich zu Beginn heraus, dass die ÖVP in ihrem Selbstbild „aus einem christlich-sozialen, einem liberalen und einem konservativen Lager“ besteht – also ein großes Sammelbecken politischer Ideen. Aber wie steht es um diese in einer Partei, die seit 37 Jahren regiert?
Was ist eigentlich konservativ?
Konservativ, das gelte oft als „langweilig“ oder „verstockt“, wie die Partei selbst in ihrem Grundsatzprogramm festhält. Programmatisch macht sie einen Unterschied zwischen struktur- und wertkonservativ. Strukturkonservativ sei man, wenn man jede Veränderung als schädlich wahrnehme, wertkonservativ, wenn man „Gutes bewahren“ wolle.
Ein Beispiel dafür liefert das Programm mit der deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Diese sei etwa wertkonservativ, weil sie an den hohen Stellenwert der Familie glaube, aber nicht strukturkonservativ, da Kinderbetreuung „nicht ausschließlich Frauensache“ sei. Dabei bremst die ÖVP selbst beim Ausbau der Kinderbetreuung – während der rot-schwarzen Regierung setzte Sebastian Kurz alle Hebel in Bewegung, um eine Einigung dazu zu verhindern, und auch aktuellere Ankündigungen sucht man im Budget vergeblich. Ist die ÖVP etwa selbst strukturkonservativ?
Ein anderes Beispiel für die Erklärung des Konservatismus findet die ÖVP – überraschenderweise – im Umweltschutz. Während die Partei rhetorisch eher auf Abstand zu den Grünen geht, schreibt sie in ihrem Grundsatzprogramm:
„So wies etwa die aufkeimende Ökologiebewegung durchaus konservative Züge auf. Für den Schutz von Natur und Umwelt einzutreten, ist im Auftrag der Bewahrung der Schöpfung als durchaus konservative Haltung zu bewerten.“
Trotzdem gelingt der Volkspartei auch in einer Regierung mit den Grünen wenig: Das Klimaschutzgesetz fehlt nach wie vor, ÖVP-Klimasprecher Johannes Schmuckenschlager sagt öffentlich, er könne auch gerne darauf verzichten. Wenn die Klimaziele nicht erreicht werden, drohen Österreich hohe Strafzahlungen, immerhin hat sich eine Bundesregierung, in der die ÖVP vertreten war, zu diesen verpflichtet. Gleichzeitig bezeichnet der Bundeskanzler Österreich als „das Autoland schlechthin“ und redet der Verbrennungsmotor-Lobby das Wort. Wie passt das zusammen?
Wie liberal ist die ÖVP?
Auf der anderen Seite bezeichnet sich die ÖVP auch als liberal – was für viele schon mal wie ein Widerspruch in sich klingen dürfte. Liberal und konservativ? Fortschrittlich und bewahrend gleichzeitig? Das wird schwierig. Eine Definition für ihren Liberalismus-Begriff liefert die ÖVP in ihrem Grundsatzprogramm:
„Liberalismus in diesem klassischen Sinn tritt aktiv für den Wert von Wahlfreiheit und Selbstbestimmung ein. Der Liberalismus als ideengeschichtliches Kind von Aufklärung und französischer Revolution stellt die Freiheiten des einzelnen Menschen in den Vordergrund und lehnt jede Form des geistigen, sozialen, politischen oder staatlichen Zwangs ab.“
Das Dokument lügt nicht, wenn es diese Definition als liberale Programmatik bezeichnet. Aber wie viel hat die ÖVP heute noch damit zu tun? Mit der Ablehnung von Zwängen nimmt es die ÖVP nicht mehr so genau: In Oberösterreich, wo sie mit der FPÖ regiert, will sie etwa Asylwerberinnen und Asylwerber zu gemeinnütziger Arbeit verpflichten. Auf die Klimakleber will sie mit Haftstrafen reagieren. Mit ihren Überwachungsfantasien will sie in das Grundrecht auf Privatsphäre eingreifen, im Internet will sie einen „digitalen Ausweiszwang“.
„Der Liberale glaubt an die schöpferische Kraft des Einzelnen; das macht ihn zum Fürsprecher der Menschenrechte. Würde, Freiheit und Eigentum sind die höchsten Grundwerte. Liberale orientieren sich am mündigen Menschen und treten für Wahlmöglichkeiten und Wahlfreiheit ein. Staatliche Bevormundung lehnen sie entschieden ab.“
Auch da landen wir wieder beim konservativen Familienbild der ÖVP. Es ist schon richtig, dass Liberale staatliche Bevormundung ablehnen – aber gleichzeitig wurde in Salzburg durch die schwarz-blaue Landesregierung die „Herdprämie“ wieder eingeführt. Heißt: Frauen, die zu Hause bleiben, bekommen Geld vom Staat und damit einen klaren Anreiz. Wer umgekehrt Vollzeit arbeiten will, schaut durch die Finger, denn die Kindergärten sind nach wie vor nicht genug ausgebaut. Die Volkspartei fördert einseitig einen Lebensentwurf, der ihr zusagt. Aber wer Wahlfreiheit sagt, muss auch Kinderbetreuung sagen.
„Der Staat kann nicht alle Probleme lösen: Daher müssen öffentliche Aufgaben immer wieder auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Es ist das liberale Ziel, öffentliche Ausgaben zu beschränken und zu senken. Eine hohe Staatsquote und hohe Steuerquoten für den einzelnen Bürger sind ungerecht. Nur die Freiheit des Einzelnen stärkt die Leistungsfähigkeit und verlangt von den Menschen, Entscheidungen zu treffen.“
Wieder liest man hier grundsätzlich liberale Programmatik von der ÖVP – aber eine, die nicht zu ihr als Partei passt. Sowohl die Staats- als auch die Steuerquote steigt. Österreich ist nach wie vor eines der EU-Länder mit der höchsten Belastung durch Steuern und Abgaben. Und das bei öffentlichen Ausgaben, die bei weitem nicht immer gerechtfertigt sind: Im Bildungsbereich etwa sind die Ausgaben hoch, aber die Ergebnisse durchschnittlich, im Gesundheitssystem sinkt der Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger.
Gleichzeitig leistet sich Österreich einen teuren Föderalismus mit neun Landtagen, eine der höchsten Parteienförderungen der Welt und Inseratenbudgets für Ministerien, die in absoluten Zahlen mit Deutschland konkurrieren können. Es ist ein Land der Doppel- und Dreigleisigkeiten: Die Strompreisbremse etwa kam sowohl im Bund als auch in Niederösterreich, was dafür sorgte, dass der Preis pro Kilowattstunde dort zeitweise im Minusbereich lag. Ein klarer Anreiz, keinen Strom zu sparen – aber es war auch Wahlkampf. Und Wahlkämpfe sind immer teuer.
Widersprüche zwischen Theorie und Praxis
Diese Widersprüche zwischen Theorie und Praxis ziehen sich durch das Grundsatzprogramm der ÖVP. Ihr Versuch, sich in drei großen Strömungen zu verorten, wirft an allen drei Fronten die gleichen Fragen auf: Wie passt das zu ihrer Performance in der Regierung?
Ihre dritte ideologische Stütze ist übrigens die christliche Soziallehre. Dazu gehört auch der Begriff Subsidiarität – also der Gedanke, dass Aufgaben im Kleinen erledigt werden sollen. Der Mensch sei ein „selbstverantwortliches Wesen mit unantastbarem Freiheitsraum“, der Staat habe die Menschenwürde zu wahren, Solidarität sei ein wesentlicher Bestandteil der Wirtschaft, und der Staat müsse sich auch auf das Gemeinwohl konzentrieren. Aber auch hier stößt man auf Widersprüche zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Politik:
Was der einzelne Mensch bzw. eine kleine Gruppe (Familie, Dorfgemeinschaft, Bezirk) besorgen kann, soll auch vom Einzelnen bzw. der kleinen Gruppe besorgt werden. Erst wenn die Kräfte der kleinen Einheit nicht mehr reichen, soll die größere Gemeinschaft (Land, Bund, EU) helfen. Aus dem Prinzip Subsidiarität folgt eine Absage an jedes „Gießkannenprinzip“.
Genau diese Gießkanne hat die schwarz-grüne Koalition aber in der Pandemie und in der Teuerungskrise ausgepackt: Jeder und jede bekommt ein bisschen etwas, unabhängig vom konkreten individuellen Bedarf.
Wir denken und handeln als Österreichische Volkspartei europäisch.
Auch diese Überschrift wirkt aus heutiger Sicht unglaubwürdig – denn in Österreich ist Außenpolitik mittlerweile Teil der Innenpolitik. Nur so ist zu erklären, dass die Republik weiter am Schengen-Veto gegen Rumänien und Bulgarien festhält. Würden die beiden Staaten dem Schengen-Raum beitreten, wären Grenzstaus, höhere Kosten und Wartezeiten (auch für österreichische Unternehmen) schon bald Vergangenheit. Aber der ÖVP war es wichtiger, im Niederösterreich-Wahlkampf Schlagzeilen gegen die EU und mehr Migration zu produzieren. Ein Preis, den Rumänien und Bulgarien bis heute zahlen.
Die Liste der Auszüge an absurden Auszügen könnte noch lange weitergehen. Auf dem Papier bekennt sich die Partei z.B. zum konstruktiven Wettbewerb zwischen Parteien, zur Weiterentwicklung der Demokratie, zu einem schlanken Staat, einem modernen Föderalismus, unabhängigen Medien und Justiz, Zukunftsaussichten für junge Menschen, wirksame Integrationspolitik usw. usf. Das sind alles Beispiele, die man heute eher nicht mit ihr assoziieren würde – das Verhältnis der ÖVP zu den Medien etwa beschäftigt die Justiz, die dafür vom Bundeskanzler abwärts angegriffen wurde.
Fazit
Vergleicht man die Grundsätze und Werte der ÖVP mit dem, was sie in diversen Regierungsbeteiligungen tut, passt das offensichtlich nicht zusammen.
Vielleicht sind drei verschiedene Weltbilder zu schwierig zu vereinen: Konservativ und liberal unter einen Hut zu bringen, das ist oft nicht leicht. Vielleicht ist aber auch das Ränkespiel der zahlreichen Bünde mittlerweile einfach zu wichtig geworden: Wenn sich der Wirtschaftsbund und der ÖAAB fetzen, bleibt wenig Zeit für gemeinsame Grundprogrammatik und ideengeschichtliche Verortung. Es gilt, Posten zu besetzen und auf Listen zu landen.
Mit den liberalen Anteilen in der ÖVP sieht es jedenfalls düster aus. Ihre Blockadehaltung in Bereichen wie Kinderbetreuung und Klimaschutz ist mehr struktur- als wertkonservativ, teilweise auch einfach ewiggestrig, ihr Bekenntnis zum liberalen Staat wird durch den Reformstau und den Griff zur Gießkanne unglaubwürdig. Wenn sich eine Partei, die seit 37 Jahren in der Regierung sitzt, über zu hohe Steuern und Abgaben beschwert, sollte sie das zuallererst ihren eigenen Reihen ausrichten.
Dazu kommt, dass die Volkspartei – wohl auch aus wahltaktischen Gründen – immer stärker nach rechts blinkt. 2023 probierte die Partei einige „Testballons“ aus, wie man der FPÖ Stimmen abknöpfen konnte: mit einer Bargeld-Debatte, obwohl niemand das Bargeld verbieten will, mit der Debatte darüber, was eigentlich „normal“ sei, und mit Populismus gegen Migrantinnen und Migranten und die Europäische Union. Auch wenn es nur aus dem Grund passieren sollte, dass das unter Sebastian Kurz schon gut funktioniert hat – mit liberalen Werten hat die Rhetorik der Partei nur noch aus historischer Perspektive zu tun.
Aber immerhin: Es war schon mal besser. Dass der Liberalismus zumindest in verstaubten Grundsatzdokumenten noch vorkommt, ist ein Zeichen für Hoffnung. Und vielleicht kann man von einer konservativen Partei gar nicht erwarten, große Ansagen in diese Richtung zu machen. Aber es ist bezeichnend, wie progressiv aus heutiger Sicht der frühere Vizekanzler Josef Pröll klingt, wenn er sagt:
„Konservativ zu sein bedeutet auch, Neues zu schaffen, was künftige Generationen als bewahrenswert betrachten. Und so ist Innovation keine Gefahr für den Konservatismus, sondern Voraussetzung für seinen Bestand.“
Josef Pröll
Es bleibt zu hoffen, dass die konservativere, aber auch deutlich umfragengetriebenere ÖVP von heute schon bald Anleihen an diesem Satz nimmt.